„Killerkeime“ in Deutschland und Europa Antibiotikaresistenzen – Zahlen, Daten und Fakten
Anbieter zum Thema
Corona beherrscht die derzeitige Nachrichtenlage wenn es um akute Bedrohungen für unsere Gesundheit geht. Andere Gesundheitsgefahren geraten ein wenig aus dem Fokus – beispielsweise die zunehmende Antibiotikaresistenz vieler Bakterien.

Halsschmerzen, die einem die Tränen in die Augen treiben und denen gängige Betäubungsmittel halbwegs egal zu sein scheinen. Nicht minder schmerzhafte Harnwegsinfekte, die nicht auf die üblichen Hausmittel ansprechen. Die Bronchitis, die mit einem Mal das Atmen zum Problem werden lässt. Ein Arzt, ein Rezept, ein Antibiotikum und nahezu vergessen ist häufig alle Pein.
Richtig angewandt sind Antibiotika ein Segen. Schwerwiegende bakterielle Infektionen, die ansonsten schnell Leib und mitunter auch Leben bedrohen, wurden mit ihrer Entdeckung durch Nobelpreisträger Alexander Fleming im Jahr 1928 relativ leicht behandelbar. Unzählige Leben wurden und werden so gerettet.
Doch kampflos geschlagen, geben sich die Pathogene nicht: Jahrzehntelanger übermäßiger und unsachgemäßer Gebrauch in Human- und Tiermedizin haben dazu geführt, dass die Medizin von heute verstärkt mit solchen Erregern zu kämpfen hat, die gegen
- einzelne Antibiotika (Resistenz)
- oder aber gleich mehrere (Multiresistenz),
- schlimmstenfalls alle verfügbaren antibiotischen Wirkstoffe (Panresistenz)
unempfindlich geworden sind. Vermittelt werden solche Resistenzen durch so genannte Resistenzgene (s. Ergänzendes zum Thema). Vermeintlich harmlose Infektionen lassen sich dann nur schwer oder aber gar nicht mehr behandeln. Komplizierte Verläufe von Infektionen sind häufiger. Treffen kann dies im Prinzip jeden von uns, besonders gefährdet sind allerdings kranke und immungeschwächte Menschen.
Von Resistenzen und Krankenhausinfektionen
Zum Problem werden solche Keime oft in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen, zum einen weil dort besonders viele Antibiotika eingesetzt werden, zum anderen weil Patienten und Bewohner hier ohnehin häufig krank oder geschwächt sind. Der Begriff „Krankenhauskeime“ wird daher umgangssprachlich mitunter synonym für antibiotikaresistente Bakterien verwendet. Dies ist jedoch ungenau und kann zu Missverständnissen führen, denn eine „Krankenhausinfektion“ oder „nosokomiale Infektion“ ist zunächst einmal jede Infektion, die sich ein Mensch während eines Aufenthalts in einem Krankenhaus oder bei einer ambulant durchgeführten medizinischen Behandlung zugezogen hat – egal, ob mit einem antibiotikaresistenten oder einem nicht-resistenten Erreger.
Wie viele Menschen sterben jährlich resitenten Keimen oder nosokomialen Infektionen?
Einer 2018 veröffentlichten Studie des Europäischen Zentrums für die Prävention und Kontrolle von Krankheiten (ECDC) zur Krankheitslast durch Multiresistente Erreger (MRE) zufolge sterben
- allein in Deutschland ca. 2400 Menschen pro Jahr an einer Infektion durch Multiresistente Erreger (MRE).
- In Europa sind es insgesamt jedes Jahr ca. 33.000.
An einer nosokomialen Infektion erkranken laut einer Berechnung, die das Robert-Koch-Institut (RKI) gemeinsam mit dem Europäischen Zentrum für die Prävention und Kontrolle von Krankheiten (ECDC) und der Berliner Charité (NRZ für Surveillance von nosokomialen Infektionen) im Jahr 2019 veröffentlicht hat, in Deutschland jedes Jahr geschätzt 400.000 bis 600.000 Menschen und etwa 10.000 bis 20.000 Menschen sterben daran.
Zahlen, Daten, Fakten zu Multiresistenten Erregern in Deutschland
Anhand der Daten der Antibiotika-Resistenz-Surveillance (ARS) des RKI und der Prävalenzerhebung von 2011 lässt sich nach RKI-Angaben schätzen, dass im Jahr 2013 circa 6% der Krankenhausinfektionen durch multiresistente Erreger bedingt waren.
Bei einem Mittelwert von 500.000 nosokomialen Infektionen pro Jahr in Deutschland bedeute das (Stand November 2018): „11.000 Infektionen würden durch Methicillin-resistente Staphylococcus aureus (MRSA), 4000 Infektionen durch Vancomycin-resistente Enterokokken (Enterococcus faecalis und Enterococcus faecium), 8000 Infektionen durch multiresistente Escherichia coli, 2000 Infektionen durch multiresistente Kebsiella pneumoniae und etwa 4000 Infektionen durch multiresistente Pseudomonas aeruginosa verursacht.“ Bei diesen Keimen handelt es sich um die fünf wichtigsten multiresistenten Erreger. Sie führten damit zu etwa 29.000 nosokomialen Infektionen. Werden zusätzlich weitere Erregerarten berücksichtigt, kommt das RKI auf 30.000 bis 35.000 nosokomiale Infektionen mit MRE pro Jahr in Deutschland. Auf die besonders gefährlichen multiresistenten Erreger, die gegen fast alle Antibiotikaklassen resistent sind, gehen nach RKI-Angaben jährlich 1500 Fälle bzw. 0,3% aller nosokomialen Infektionen in Deutschland zurück [5, 6].
Um diese Zahlen richtig einzuordnen: „Es sterben mehr Menschen an nicht oder kaum resistenten Erregern als an resistenten Erregern. Daran ist zu erkennen, dass das Antibiotikum allein nicht die Heilung bringt. Auch die körpereigenen Kräfte – das Immunsystem – tragen sehr viel zur Gesundung bei“, sagte der Leiter der Abteilung für Antibiotikaresistenzen am Robert-Koch-Institut in Berlin Tim Eckmanns in einem Interview mit dem ZDF.
Was macht die Situation so gefährlich?
Dennoch ist die Situation ernst und manch ein Forscher sieht bereits das „postantibiotische Zeitalter“ anbrechen. Sorge bereitet den Wissenschaftlern v.a. die Entwicklung so genannter Panresistenzen. Gegen diese Keime sind alle verfügbaren Antibiotika wirkungslos. Vereinzelt aufgetretene Resistenzen gegen das Reserveantibiotikum Colistin machten in diesem Zusammenhang zuletzt Schlagzeilen.
Das bereits in den 1950er Jahren entwickelte Antibiotikum wurde in der Humanmedizin bislang nur noch dann eingesetzt, wenn alle anderen Wirkstoffe versagten. 2016 stießen Ärzte bei einer an einer Harnwegsinfektion erkrankten Frau auf E.coli-Bakterien, die neben anderen Resistenzgenen das Gen mcr-1 in ihrem Genom trugen. Es macht die Keime auch gegen Colistin unempfindlich. Offenbar hatte sich dieses Gen bereits seit längerem weltweit, aber unbemerkt, verbreitet. Jedoch nicht in dem zunächst vermuteten Ausmaß – das ist die gute Nachricht. Sollte sich mcr-1 unter den Keimen jedoch stärker verbreiten, wäre es eine echte Gefahr.
Bislang nur am Rande erwähnt, jedoch im Zuge der Resistenzproblematik von enormer Bedeutung, ist auch in diesem Fall die Veterinärmedizin. Neben Krankenhäusern und mangelnder Hygiene, gilt sie als eine der „Hauptbrutstätten“ für antibiotikaresistente Keime und wichtiger Ausgangspunkt für deren Verbreitung. Denn v.a. in der Tiermast werden Antibiotika in großem Stile in den Beständen eingesetzt. Landwirte sind nicht selten mit antibiotikaresistenten Keimen besiedelt. Auch für den Verbraucher landwirtschaftlicher Erzeugnisse besteht eine gewisse Gefahr, mit antibiotikaresistenten Keimen in Kontakt zu kommen, insbesondere wenn bei bestimmten Produkten wie Hähnchenfleisch allgemeine Hygieneregeln nicht eingehalten werden.
Wahrscheinlich nahm auch das mcr-1-Gen seinen Ursprung in der Tiermast. Denn Colistin ist bei Tierärzten beliebt, u.a. weil es billig ist, in Nutztieren keine Nebenwirkungen verursacht und darüber hinaus auch gegen Durchfälle hilft. Das lange Zeit praktizierte Beimischen von Antibiotika ins Viehfutter, um Bestände präventiv zu behandeln oder das Wachstum der Tiere zu fördern, ist in Deutschland seit 2006 verboten. Seit 2014 gelten hierzulande auch strengere Regeln, was den Einsatz von Antibiotika bei Nutztieren angeht, die u.a. den Antibiotika-Verbrauch reduzieren sollen. Das Problem dürfte jedoch nur durch internationale Ansätze wirklich in den Griff zu bekommen sein.
Warum gibt es so wenig neue Wirkstoffe?
Und durch dringend notwendige neue Wirkstoffe. Doch genau hier liegt, wenn man so will, etwas gefährlich im Argen. Denn verglichen mit anderen Indikationen werden nur sehr wenig neue antibiotische Wirkstoffe beforscht, entwickelt und zur Marktreife gebracht. Für Pharmaunternehmen ist dieses Geschäft schlicht zu unrentabel. Während die Entwicklung teilweise Milliarden kostet, werden die Mittel nach Markteinführung häufig als Reservemedikamente gelistet, also nur dann eingesetzt, wenn kein anderes verfügbares Antibiotikum mehr hilft. Die Absatzzahlen sind also vergleichsweise gering. Schon lange fordern Unternehmen und Verbände hier Unterstützung durch öffentliche Mittel.
Es gibt viele Initiativen und Allianzen, welche die Entwicklung neuer Wirkstoffe beispielsweise durch Start-Ups vorantreiben sollen. Doch meist fehlt es konkret an Geld, um die enormen F&E-Kosten zu stemmen. Das Bundesministerium für Gesundheit hat 2015 gemeinsam mit den Bundesministerien für Ernährung und Landwirtschaft sowie Bildung und Forschung die Deutsche Antibiotika-Resistenzstrategie „DART 2020“ verabschiedet, Die hatte sich u.a. zum Ziel gesetzt, Forschung und Entwicklung in diesem Bereich zu stärken.
Insbesondere die Pharmariesen ernten viel Kritik für ihr mangelndes (finanzielles) Engagement oder ihren vollständigen Rückzug aus diesem wichtigen F&E-Zweig. Wie so oft, wurde sich in den vergangenen Jahren viel Schuld gegenseitig in die Schuhe geschoben.
Wie ist es um die Antibiotika-Forschung und -Entwicklung in Deutschland bestellt?
- Nach Angaben des Verbands forschender Pharmaunternehmen (vfa) wurde vor 13 Jahren (2007) die letzte neue Klasse von Erreger-übergreifend einsetzbaren Antibiotika entwickelt: die Pleuromutiline.
- Danach folgten noch zwei speziell gegen Tuberkulose eingesetzte Klassen: die Diarylchinoline (2013) und die Dihydro-Nitroimidazooxazole (2014).
- Derzeit arbeiten nach Angaben des vfa weltweit ein paar große, v.a. aber mehr als 50 kleine und mittlere Unternehmen an neuen Antibiotika und anderen antibakteriell wirksamen Medikamenten (s. Abb. 2 und 3) .
Nach Ansicht des Verbands der Diagnostica-Industrie (VDGH) sei zudem „Labordiagnostik der stärkste Hebel bei der Bekämpfung von Antibiotikaresistenzen", sagt der Geschäftsführer des Verbandes der Diagnostica-Industrie (VDGH), Dr. Martin Walger. „Moderne Labortests geben dem behandelnden Arzt eine Entscheidungshilfe in der Infektionssaison und sichern den zielgenauen Einsatz von Antibiotika ab. Neben Tests, die im Facharztlabor analysiert werden, können patientennahe Tests schon in der Arztpraxis Hinweise auf eine bakterielle oder virale Ursache der Infektion geben. Sie unterstützen den Arzt dabei, die Verordnungen von Antibiotika von Anfang an zu reduzieren“, so Walger. Für den Patienten kann die Ausstellung eines prophylaktischen Antibiotikarezepts oder ein erneuter Arztbesuch entfallen, wenn der Test entsprechende Klarheit verschafft.
Die Kritik über ihr mangelndes Engagement bei der Suche nach neuen antibiotischen Wirkstoffen scheinen sich indes einige der kritisierten Pharmariesen nun zu Herzen genommen zu haben: Im Juli verkündeten 23 führende Biopharmaunternehmen den Start des AMR Action Fund, der bis 2030 die Entwicklung von zwei bis vier neuartigen Antibiotika ermöglichen soll. Knapp eine Milliarde Euro wollen die Unternehmen dafür gemeinsam in die Hand nehmen. Das macht Hoffnung, entlässt aber auch die Politik nicht aus der Verantwortung. Letztlich sind wie so oft alle gefragt, will man dem Problem Herr werden, denn auch bessere Hygiene ist Teil der Lösung, ebenso wie weniger verschriebene Antibiotika.
Literatur:
[1] Zacher B et al.: Application of a new methodology and R package reveals a high burden of healthcare-associated infections (HAI) in Germany compared to the average in the European Union/European Economic Area, 2011 to 2012 (Eurosurveillance, November 2019)
[2] Bericht des ECDC: Point prevalence survey of healthcare-associated infections and antimicrobial use in European acute care hospitals 2011–2012
[3] Cassini et al.: Burden of Six Healthcare-Associated Infections on European Population Health: Estimating Incidence-Based Disability-Adjusted Life Years through a Population Prevalence-Based Modelling Study. PLOS Medicine, DOI: 10.1371/journal.pmed.1002150, October 1, 2016
[4] Gastmeier et al.: Wie viele nosokomiale Infektionen sind vermeidbar? Dtsch Med Wochenschr 2010; 135:91-93“
[5] Gastmeier, Fätkenheuer: Dilemma mit Begriffen und Zahlen. Deutsches Ärzteblatt, April 2015
[6] Abschlussbericht der Punkt-Prävalenzerhebung 2011 zum Vorkommen von nosokomialen Infektionen und zur Anwendung von Antibiotika an Akutkrankenhäusern in Deutschland, Nationales Referenzzentrum für Surveillance von nosokomialen Infektionen
* Dr. I. Ottleben, Redaktion LABORPRAXIS, E-Mail ilka.ottleben@vogel.de
(ID:46683578)