Elektronenspinresonanzspektroskopie Aufklärung multivalenter Bindungsmechanismen
Ein neuer Ansatz nutzt Elektronenspin-resonanzspektroskopie, um Bindungsmechanismen zwischen Kohlenhydraten und Proteinen strukturbasiert zu untersuchen. Über Abstandsmessungen können Informationen über das Bindungsverhalten in Lösungen gewonnen werden.
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Kohlenhydrate sind gemeinhin als Nahrungsmittel oder als Gerüst- und Stützsubstanzen bekannt. Sie besitzen jedoch auch andere Funktionen: So sind sie in Form von Zuckerstrukturen auch auf Zelloberflächen zu finden, wo sie als Erkennungsmuster und damit zur Signalübermittlung dienen. Über diese Zuckerstrukturen können Zellen miteinander kommunizieren. Die Informationsübermittlung findet über die Anbindung dieser Kohlenhydrat-Liganden an Proteine statt. Die Anbindung erfolgt jedoch meist nicht ausschließlich über eine einzelne Bindungsstelle; häufig nutzt der Ligand gleich mehrere Bindungsstellen, um multivalent an das Protein anzudocken. Verglichen mit monovalenten Wechselwirkungen kann solche Multivalenz zu deutlich erhöhter Bindungsaffinität und -spezifität führen. Die zugrunde liegenden molekularen Prozesse sind jedoch noch nicht vollständig verstanden. Verschiedene Mechanismen, insbesondere das überbrückende Binden benachbarter Bindungsstellen, wurden zur Erklärung der erhöhten Bindungsaffinität postuliert.
In vielen biologischen Systemen werden Wechselwirkungen zwischen multivalenten Kohlenhydratderivaten und Lektinen, also Proteinen, die spezifisch Kohlenhydratstrukturen binden, beobachtet. Die Inhibition dieser Wechselwirkungen mittels maßgeschneiderter Liganden ist z.B. von großem Interesse bei der Behandlung vieler Krankheiten.
Bisher wurden multivalente Bindungsprozesse meist in kristallinen Proben mithilfe von Röntgenbeugung untersucht, so auch die Bindung von divalenten N-Acetylglucosamin-Derivaten (GlcNAc) an das Pflanzenlektin Weizenkeimagglutinin (WGA). WGA liegt als Dimer vor und besitzt in dieser Form acht Bindungsstellen für GlcNAc. In den untersuchten divalenten Liganden 1 und 2 sind zwei GlcNAc-Reste über einen flexiblen Linker mit variabler Länge miteinander verbunden (s. Abb. 1). Da jedoch die Kristallstruktur von Biomolekülen nicht zwangsläufig deren Struktur in Lösung entspricht und auch der Bindungsmechanismus durch die dichte Packung in einem Kristall beeinflusst werden kann, ist die Untersuchung der multivalenten Wechselwirkungen in Lösung von großer Bedeutung und gleichzeitig eine Herausforderung.
ESR-Spektroskopie und ortsspezifische Spinmarkierung
Eine neue Methode auf Grundlage der Elektronenspinresonanzspektroskopie (ESR-Spektroskopie) ermöglicht, den exakten Bindungsmodus in Lösung zu bestimmen. Dazu werden an den beiden bindungsfähigen Enden der so genannten zweizähnigen Liganden Spinmarker angebracht, die ein ESR-Signal aufweisen (Verbindungen 1S und 2S in Abb. 1). Damit wird die Einschränkung der ESR-Spektroskopie, nur ungepaarte Elektronen detektieren zu können, zum Vorteil für die vorgestellte Methode. Zur Untersuchung der Wechselwirkungen in einem komplexen System aus multivalenten Kohlenhydratderivaten und Lektinen kann das Signal direkt den spinmarkierten Liganden zugeordnet werden.
Mit ESR-Spektroskopie können Abstände zwischen 1 und 10 nm zwischen diesen Spinmarkern gemessen werden. Bei geeigneter Datenanalyse sind auch Abstandsverteilungen zugänglich, sodass auch flexible Strukturen oder parallel vorliegende Konformationen untersucht werden können. Während für die komplementäre Technik FRET (Förster-Resonanzenergietransfer), die zur Abstandsmessung in Proteinen weit verbreitet ist, zwei unterschiedliche, vergleichsweise große Chromophore benötigt werden, die darüber hinaus noch entsprechend dem erwarteten Abstand ausgewählt werden müssen, kommen ESR-Abstandsmessungen mit zwei kleinen, identischen Spinmarkern aus, die über einen großen Abstandsbereich präzise Messungen ermöglichen. Als Spinmarker werden Nitroxide verwendet. Das ungepaarte Elektron, das für die ESR-Spektroskopie benötigt wird, ist dabei über die N-O-Bindung delokalisiert. Die Stabilität der Nitroxide wird vor allem durch die sterische Abschirmung des ungepaarten Elektrons durch Methylgruppen erreicht. Diese kleinen Nitroxidspinmarker üben nur minimalen Einfluss auf die Struktur des Liganden aus. Nichtsdestotrotz sind, wie bei allen Untersuchungen, die mit Labeln arbeiten, Kontrollexperimente unerlässlich.
Abstandsmessungen mit der ESR-Spektroskopie
Die Grundlage der Abstandsmessungen mit ESR-Spektroskopie ist die Dipol-Dipol-Wechselwirkung zwischen Elektronenspins, die proportional zu 1/r3 vom Abstand r abhängt. Darüber hinaus ist sie jedoch auch vom Winkel zwischen externem Magnetfeld und Spin-Spin-Verbindungsvektor abhängig. Schnelle Orientierungsänderung des Spin-Spin-Vektors aufgrund der rotatorischen Diffusion des Lektins oder des Liganden in Lösung mittelt über alle Orientierungen und damit die Dipol-Dipol-Wechselwirkung zu null. Deshalb werden die Abstandsmessungen in gefrorener, glasartiger Lösung durchgeführt, sodass nach Schockgefrieren ein Schnappschuss der Ligandenkonformation erhalten wird. Für Abstände unterhalb von 2 nm übersteigt die Dipol-Dipol-Kopplung die inhomogene Linienbreite des ESR-Spektrums. Eine Verbreiterung der Spektren ist die Folge, sodass es möglich ist, Abstände direkt aus dem Spektrum abzuleiten. Für Abstände, die größer sind als zwei Nanometer, ist die Dipol-Dipol-Kopplung zu klein, um zu einer signifikanten Verbreiterung der ESR-Spektren zu führen. In diesem Fall muss die Dipol-Dipol-Wechselwirkung von konkurrierenden Wechselwirkungen getrennt werden, was üblicherweise durch gepulste Experimente geschieht.
Doppel-Elektron-Elektron-Resonanz
Das Verfahren der Wahl ist Doppel-Elektron-Elektron-Resonanz (DEER) oder PELDOR (Pulsed Electron Double Resonance). Typische Probenvolumina für Abstandsmessungen sind einige zehn Mikroliter bei Mindestkonzentrationen von einigen zehn Mikromol pro Liter. Die Messzeit für ein DEER-Experiment beträgt typischerweise mehrere Stunden. Zwei spektral nicht überlappende Pulssequenzen (s. Abb. 2) regen verschiedene Bereiche des Nitroxidspektrums an, sodass die in der Probe vorhandenen Spins in A- und B-Spins unterteilt werden können. Um die Dipol-Dipol-Wechselwirkung zu messen, wird mit der Pumpfrequenz ein Puls eingestrahlt, der die B-Spins invertiert. Diese Invertierung führt zu einer Änderung des lokalen Magnetfelds am Ort der A-Spins. Strahlt man nun den Pump-Puls zu verschiedenen Zeiten ein, wird die Intensität des refokussierten Echos V(t) der A-Spins aufgrund der Dipol-Dipol-Wechselwirkung zwischen A- und B-Spin moduliert. Üblicherweise wird die Intensität V(t) gegen die Zeit aufgetragen (s. Abb. 3). Die Abstandsverteilung zwischen den Spinmarkern erhält man mittels quantitativer Analyse. Dabei wird über die Wahl eines Regularisierungsparameters ein Kompromiss zwischen Glätte der Abstandsverteilung und Anpassung an die (verrauschten) experimentellen Daten optimiert. Wenn die Ligandenmoleküle sich frei in der Lösung bewegen, dann sind sie flexibel und eine Mischung langer und kurzer Abstände zwischen den Spinmarkern wird detektiert. Bindet der Ligand hingegen in einer brückenartig gestreckten Bindung doppelt an ein Protein an, wird seine Flexibilität reduziert, und aus der ehemals breiten Abstandsverteilung wird eine relativ schmale. Über diese Abstandsinformationen können direkte Strukturinformationen über den Liganden gewonnen werden, sodass bestimmt werden kann, wie er an das Protein bindet. So ergaben DEER-Experimente der divalenten, doppelt spinmarkierten Liganden 1S und 2S (s. Abb. 1) ohne Zugabe von Lektinen eine breite Abstandsverteilung zwischen den Spinmarkern (s. Abb. 4). Dies zeigt die Flexibilität des Linkers zwischen den beiden spinmarkierten GlcNAc-Resten, die viele Konformationen mit unterschiedlichsten Spinlabel-Abständen ermöglicht (s. Abb. 5a).
Bei achtfachem molarem Überschuss des WGA-Dimers erwartet man nahezu quantitatives Binden des divalenten Liganden 1 an das Lektin. Unter solchen Bedingungen ändert sich die Abstandsverteilung zwischen den beiden Spinmarkern von 1S deutlich; ihre Breite wird geringer und ihr Maximum verschiebt sich zu 2,3 nm (s. Abb. 4, oben). Diese Daten zeigen, dass der divalente Ligand gestreckt ist und gleichzeitig mit beiden Zuckern an das Protein bindet (s. Abb. 5b). Im Gegensatz dazu bleibt die intramolekulare Abstandsverteilung für den divalenten Liganden 2S bei Zugabe von Lektin unverändert, da er aufgrund seines kürzeren Linkers nur monovalent an das Lektin bindet (s. Abb. 5c).
Durch die Auswertung von Abstandsverteilungen zwischen Ligandenmolekülen, die an das gleiche multivalente Proteinmolekül gebunden waren, gelang es zusätzlich, die bevorzugten Bindungsstellen zu identifizieren. Die Methode ist dabei keineswegs auf das gewählte System beschränkt, vielmehr besitzt sie das Potenzial für die Untersuchung vielfältiger Protein-Ligand-Wechselwirkungen.
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* Prof. Dr. V. Wittmann und Dr. M. Drescher: Universität Konstanz, Fachbereich Chemie, 78457 Konstanz
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