Wenn die Mutter während der Schwangerschaft eine Infektion erleidet, kann dies Autismus bei dem Kind begünstigen. Die Hintergründe dazu haben Forscherinnen der Universität Tübingen mithilfe von Hirn-Organoiden in Laborversuchen aufgedeckt. Sie ordnen auch ein, wie groß das Risiko tatsächlich ist.
Ein Hirn-Organoid unter dem Mikroskop. Neuronale Stammzellen leuchten magentafarben. Die grüne Farbe zeigt Zellaktivität nach erhöhtem Kontakt mit dem Botenstoff Interleukin-6 an.
(Bild: Kseniia Sarieva / HIH)
Wichtige Weichen werden früh im Leben gestellt – manche sogar vor der Geburt. Bereits im Mutterleib beeinflussen Umweltfaktoren die Entwicklung des Kindes und können Auswirkungen auf die Gesundheit haben. So erhöhen bestimmte Infektionen das Risiko, später an einer Autismus-Spektrum-Störung zu erkranken. Ein Forschungsteam um Dr. Simone Mayer vom Hertie-Institut für klinische Hirnforschung und der Universität Tübingen hat nun einen molekularen Mechanismus dieses Zusammenhangs entschlüsselt. Schüttet das Immunsystem der werdenden Mutter einen bestimmten Botenstoff aus, so verändere das Großhirn des Ungeborenen seinen Aufbau, berichten die Wissenschaftler in ihrer Studie.
„Epidemiologische Studien deuten seit längerem darauf hin, dass Infektionen während der Schwangerschaft mit einem leicht erhöhten Risiko bei Kleinkindern einhergehen, an einer Autismus-Spektrums-Störung zu erkranken“, sagt Studienleiterin Mayer. Bei Mäusen sei festgestellt worden, dass Botenstoffe des Immunsystems die embryonale Gehirnstruktur beeinflussen könnten. „Offen war bisher, ob die gleichen molekularen Mechanismen auch beim Menschen zum Tragen kommen.“
Um dies zu untersuchen, hat die Neurobiologin mit ihrem Team im Labor aus Stammzellen Hirn-Organoide hergestellt. Das sind dreidimensionale Gewebestrukturen, die natürlichem Hirngewebe sehr nah kommen. Ihre Entwicklung kann man in der Petrischale gut verfolgen. Auf diese Weise lassen sich molekulare und zelluläre Mechanismen im Detail studieren.
Anhaltende Veränderungen im Hirngewebe
In der aktuellen Studie ähnelten die Hirn-Organoide der menschlichen Großhirnrinde. Während ihrer Entwicklung setzen die Wissenschaftlerinnen sie gezielt einer erhöhten Menge des Immun-Botenstoffes Interleukin-6 aus. Dieser wird bei Infektionen von der Mutter und der Plazenta ausgeschüttet. „In epidemiologischen Studien wurde eine erhöhte Interleukin-6-Konzentrationen während der Schwangerschaft mit Veränderungen der Hirnanatomie und kognitiven Leistungen im Säuglingsalter in Verbindung gebracht“, berichtet Erstautorin Kseniia Sarieva.
Bei den menschlichen Hirn-Organoiden zeigte sich nun ein ähnliches Bild: „Wir beobachteten anhaltende Veränderungen im Gewebe“, sagt Sarieva. „Bestimmte Gene waren mehr oder weniger aktiv als unter normalen Bedingungen. Ebenfalls traten manche Zelltypen häufiger auf als sonst, selbst über einen Monat nach Ende der simulierten Infektion.“ Ob diese Veränderungen auch noch nach mehreren Monaten bestehen bleiben, sei allerdings noch nicht bekannt.
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Erhöhte Werte des Immun-Botenstoffes Interleukin-6 scheinen damit direkte Auswirkungen auf die Architektur der kindlichen Großhirnrinde zu haben und auf diese Weise eine spätere Erkrankung zu begünstigen. Interleukin-6 tritt als Signalsubstanz des Immunsystems bei allen Entzündungsreaktionen auf. Neben viralen und bakteriellen Infektionen können das auch Autoimmunkrankheiten sein. Tatsächlich scheint auch Diabetes, eine Autoimmunkrankheit, mit einem leicht erhöhten Risiko einer Autismus-Spektrum-Störung des Kindes zusammenzuhängen.
Mit der Herstellung ihres Hirn-Organoidmodells ist dem Forschungsteam ein entscheidender Fortschritt gelungen. Künftig können sie mit ihrem Ansatz solche und auch andere Umwelteinflüsse auf die Gehirnentwicklung im Mutterleib untersuchen.
„Mit einem besseren Verständnis der Mechanismen helfen unsere Studien vielleicht in Zukunft, negativen Umwelteinflüsse während der Schwangerschaft entgegenwirken zu können,“ hofft Studienleiterin Mayer. Grund zu großer Sorge geben die neuen Erkenntnisse nicht, wie die Forscherin betont. Schwangere Frauen sollten sich unbedingt bewusst machen, dass das Risiko für eine Autismus-Spektrums-Störung wirklich nur gering erhöht sei (s. Kasten unten) und auch von der Art und Zeitpunkt des Infektes abhänge. „Eine Infektion hat man nicht in der Hand. Das Beste, was man für ein gut funktionierendes Immunsystem tun kann, ist, Stress zu vermeiden – und guter Hoffnung zu bleiben.“ (clu)
Hintergrund: Risiko richtig einschätzen
In einer Studie von der dänischen Universität Aarhus kamen Forscher zu dem Ergebnis, dass Infektionen in bestimmten Phasen der Schwangerschaft die Wahrscheinlichkeit erhöhten, dass das Kind eine Autismus-Spektrum-Störung (Autism Spectrum disorder, ASD) entwickelt. Eine Virusinfektion im ersten Trimester führte demnach zu einer um rund 200 Prozent höheren ASD-Wahrscheinlichkeit (Hazard Ratio 2,98), eine bakterielle Infektion im zweiten Trimester zu einer Steigerung von 40 Prozent (Hazard Ratio 1,42) [1].
Diese Steigerungen wirken zunächst beunruhigend. Doch bei näherer Betrachtung fällt auf, dass das Risiko dennoch extrem gering ist, weil es generell sehr selten zu ASD während der Schwangerschaft kommt. So gibt das Umweltbundesamt eine geschätzte weltweite Prävalenz für Autismus-Spektrum-Störungen von rund einem Prozent an (wobei Jungen etwa zwei- bis dreimal so häufig betroffen sind wie Mädchen). Würde man dies auf die Eintrittshäufigkeit von ASD bei Neugeborenen übertragen, würde eines von 100 Neugeborenen eine ASD entwickeln. Mit den Daten der dänischen Studie wären es durch Virusinfektionen im ersten Trimester dann drei von 100, also immer noch sehr wenig.
Darüber hinaus weist Dr. Simone Mayer vom Hertie-Institut für klinische Hirnforschung darauf hin, dass die in der dänischen Studie erhobenen Zahlen sich explizit nur auf Infektionen beziehen, die zu einer Hospitalisierung geführt haben und sehr ausgeprägt waren. Allein für eine solch schwere Infektion sei die Wahrscheinlichkeit schon sehr gering. Die in der Studie betrachtete Gruppe war also schon eine sehr kleine Ansammlung an Extremfällen. Zudem zeigte auch die dänische Studie kein erhöhtes Risiko für ASD nach einer Infektion, wenn man den gesamten Schwangerschaftsverlauf berücksichtigt, anstatt sich auf ein einzelnes Trimester zu beschränken.
Insgesamt kann also allenfalls von einem gering erhöhten Risiko gesprochen werden
Tipp: Allgemeine Infos rund um Autismus, etwa Ursachen, weitere Risikofaktoren sowie Möglichkeiten zur Früherkennung und Diagnose hat das Bundesministerium für Gesundheit online zusammengestellt.
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