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Quantenphysik von Biomolekülen Das Blinzeln der Proteine entschlüsselt

Redakteur: Christian Lüttmann

Fällt Licht auf ein Biomolekül, verändert es seinen Zustand – und das so schnell, dass es bisher kaum möglich war, dies zu verfolgen: Wenn der Zustandswechsel so lange dauern würde wie ein Wimpernschlag, würden wir bei jedem Blinzeln für rund 3.000 Jahre die Augen schließen. Doch nun haben DESY-Forscher mithilfe von künstlicher Intelligenz und Röntgenlasern dieses „Blinzeln der Proteine“ an einem Beispielmolekül entschlüsselt.

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Lichtblitze regen Moleküle in einen anderen Quantenzustand an. Das bringt selbst moderne Analysemethoden an die Grenze des zeitlichen Auflösungsvermögens (Symbolbild).
Lichtblitze regen Moleküle in einen anderen Quantenzustand an. Das bringt selbst moderne Analysemethoden an die Grenze des zeitlichen Auflösungsvermögens (Symbolbild).
(Bild: gemeinfrei, Ben Wicks / Unsplash)

Hamburg, Milwaukee/USA – Biomoleküle gehören zu den spannendsten Studienobjekten der Teilchenwelt. Schließlich sind sie oft unmittelbar mit dem Leben und damit mit uns Menschen verknüpft. Doch um zu verstehen, wie einzelne Moleküle in der Natur reagieren, ist schnelle und hochsensitive Analytik gefragt.

Das Entwicklerteam um Abbas Ourmazd von der amerikanischen University of Wisconsin Milwaukee und Robin Santra vom Deutschen Elektronen-Synchrotron (DESY) in Hamburg stellt nun eine Kombination aus Quantenphysik und Molekularbiologie vor, die bislang unerreichbare Einblicke in die extrem schnelle Dynamik von Biomolekülen ermöglicht. Die Forscher haben damit verfolgt, wie das photoaktive gelbe Protein PYP (photoactive yellow protein) in weniger als einer billionstel Sekunde seine Struktur ändert, nachdem es durch Licht angeregt worden ist.

Was passiert zwischen Anfangs- und Endzustand?

„Um biochemische Vorgänge in der Natur wie beispielsweise die Photosynthese in bestimmten Bakterien genau zu verstehen, ist es wichtig, den detaillierten Ablauf zu kennen“, sagt der theoretische Physiker Santra. „Wenn photoaktive Proteine von Licht getroffen werden, ändern sie ihre räumliche Struktur, und diese Strukturänderung bestimmt die Rolle, die ein Protein in der Natur übernimmt.“

Bislang war es kaum möglich, den genauen Verlauf solcher Strukturänderungen zu verfolgen: Es lassen sich lediglich Anfangs- und Endzustand eines Moleküls vor und nach einer Reaktion bestimmen und theoretisch deuten. „Aber wie die Energie- und Formänderung dazwischen genau abläuft, wissen wir nicht“, ergänzt Santra. „Das ist, als könnten Sie sehen, dass jemand seine Hände gefaltet hat, aber Sie können nicht verfolgen, wie er die Finger dafür beugt.“

Während die Hand ausreichend groß und die Bewegung langsam genug ist, damit wir sie mit unseren Augen beobachten können, ist das im Reich der Moleküle nicht so einfach. Der Energiezustand eines Moleküls lässt sich sehr genau mithilfe der Spektroskopie bestimmen. Und zur Analyse der Form von Molekülen nutzen Forscher helles Röntgenlicht wie von einem Röntgenlaser. Dank seiner sehr kurzen Wellenlänge kann es sehr kleine räumliche Strukturen entschlüsseln, etwa die Positionen der Atome in einem Molekül. Allerdings entsteht dabei kein Abbild wie bei einem Foto, sondern ein charakteristisches Streumuster der Röntgenstrahlen, aus dem sich die räumliche Struktur berechnen lässt.

Ein Quantensprung in der Proteinforschung

Da die Bewegung auf der Molekülebene extrem schnell ist, müssen die Wissenschaftler äußerst kurze Röntgenblitze verwenden, weil die Aufnahme sonst verschmiert. Erst mit der Erfindung der Röntgenlaser ist es möglich, ausreichend helle und kurze Röntgenblitze zu produzieren, um diese Dynamik festzuhalten. Da sich die Moleküldynamik im Bereich der Quantenphysik abspielt, wo die aus dem Alltag vertrauten Gesetze der Physik nicht mehr gelten, lassen sich die Messungen ohne eine quantenphysikalische Analyse allerdings nicht verstehen.

Dabei gibt es eine Besonderheit der photoaktiven Proteine zu beachten: Durch das eingestrahlte Licht geht ihre Elektronenhülle in einen angeregten Quantenzustand über, der eine erste Formänderung des Moleküls bewirkt. Diese Formänderung wiederum kann zu einer Überschneidung des angeregten und des Grund-Quantenzustands führen. Die Folge ist ein Quantensprung vom angeregten zurück in den Grundzustand, wobei die geänderte Form des Moleküls zunächst bestehen bleibt.

Die trichterförmige Überschneidung der Quantenzustände heißt wissenschaftlich „konische Durchschneidung“ und öffnet einen Pfad zu einer neuen räumlichen Struktur des Proteins im quantenmechanischen Grundzustand.

Zu komplex, selbst für Supercomputer

Illustration eines Quantenwellenpakets in unmittelbarer Nähe einer konischen Durchschneidung zweier Quantenzustände. Das Wellenpaket repräsentiert hierbei die kollektive Bewegung mehrerer Atome im photoaktiven gelben Protein. Ein Teil des Wellenpakets bewegt sich über die Durchschneidung von einer Potenzialfläche auf die andere. Der restliche Anteil verbleibt auf der oberen Fläche, und es entsteht eine Überlagerung der beiden Quantenzustände.
Illustration eines Quantenwellenpakets in unmittelbarer Nähe einer konischen Durchschneidung zweier Quantenzustände. Das Wellenpaket repräsentiert hierbei die kollektive Bewegung mehrerer Atome im photoaktiven gelben Protein. Ein Teil des Wellenpakets bewegt sich über die Durchschneidung von einer Potenzialfläche auf die andere. Der restliche Anteil verbleibt auf der oberen Fläche, und es entsteht eine Überlagerung der beiden Quantenzustände.
(Bild: DESY, Niels Breckwoldt)

Dem Team um Santra und Ourmazd ist es nun erstmals gelungen, die Strukturdynamik eines photoaktiven Proteins an einer solchen trichterförmigen Überschneidung zu enträtseln. Dazu setzten sie maschinelles Lernen ein. Denn für eine solche Beschreibung der Dynamik müssten eigentlich alle Bewegungsmöglichkeiten aller beteiligten Teilchen betrachtet werden. Das führt jedoch schnell zu unübersichtlichen, nicht mehr lösbaren Rechnungen.

„Das photoaktive gelbe Protein, das wir untersucht haben, besteht aus rund 2.000 Atomen“, berichtet Santra, der leitender Wissenschaftler bei DESY und Physikprofessor an der Universität Hamburg ist. „Da sich jedes Atom grundsätzlich in allen drei Raumdimensionen bewegen kann, gibt es insgesamt 6.000 Bewegungsoptionen. Das führt zu einer quantenmechanischen Rechnung mit 6.000 Dimensionen – und die ist selbst mit den heute leistungsstärksten Computern nicht lösbar.“

Von 6.000 Dimensionen auf vier

Per Computeranalyse basierend auf maschinellem Lernen ließen sich jedoch kollektive Bewegungsmuster der Atome in dem komplexen Molekül identifizieren. „Das ist wie beim Falten der Hände: Da betrachten wir auch nicht jedes Atom einzeln, sondern deren konzertierte Bewegung“, erklärt Santra. Anders als bei einer Hand, bei der die kollektiven Bewegungsmöglichkeiten offensichtlich sind, lassen sich diese bei den Atomen eines Moleküls nicht so einfach erkennen. Der Computer konnte die rund 6.000 Dimensionen auf diese Weise jedoch auf vier reduzieren. Mit der Demonstration dieser neuen Methode kann Santras Team auch erstmals eine konische Durchschneidung von Quantenzuständen in einem komplexen Molekül aus Tausenden von Atomen charakterisieren.

Die detaillierte Rechnung zeigt, wie sich dieser konische Trichter in dem vierdimensionalen Raum bildet und das photoaktive gelbe Protein durch ihn nach einer Anregung mit Licht seine Struktur ändert und dabei wieder in den Ausgangsquantenzustand zurückfällt. Diesen Ablauf können die Wissenschaftler nun in Schritten von einigen Dutzend Femtosekunden beschreiben und so zum Verständnis der photoaktiven Prozesse beitragen. „So liefert die Quantenphysik neue Einblicke in ein biologisches System, und die Biologie bringt neue Anregungen für die quantenmechanische Methodik“, sagt Santra.

Originalpubliaktion: A. Hosseinizadeh, N. Breckwoldt, R. Fung, R. Sepehr, M. Schmidt, P. Schwander, R. Santra, A. Ourmazd: Few-fs resolution of a photoactive protein traversing a conical intersection, Nature, 2021; DOI: 10.1038/s41586-021-04050-9

(ID:47782256)