Point-of-Care Diagnostik Diagnostik aus dem Labor im Schuhkarton
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„Lab in a shoebox” – dieses Ziel strebt ein interdisziplinäres Team aus Industrie und Forschung im Projekt „optION“ an. Sie arbeiten gemeinsam an einem neuen Point-of-Care Diagnosegerät zur hochpräzisen, miniaturisierten und schnellen Analyse winziger Blutproben für die Gesundheitsversorgung.

Im menschlichen Körper spielen auch kleinste Moleküle, beispielsweise Elektrolyte wie Natrium, Kalium oder Calcium, eine bedeutende Rolle. Abweichungen von ihrer optimalen Konzentration können dramatische Folgen haben. Aus diesem Grund wird in der medizinischen Diagnostik sehr häufig die Konzentration dieser Salze im Humanblut überprüft.
Aktuell verwendete Messgeräte enthalten für jeden Elektrolyten einen separaten Messfühler (ionenselektive Elektrode). Dieses Messprinzip erfordert ein gewisses Probenvolumen, damit alle Messfühler überströmt werden können. Es sind mindestens 70 bis 80 µL Blut erforderlich. Das Blutvolumen, das z. B. von Neugeborenen entnommen werden kann, reicht dafür oft nicht aus. Die Blutentnahme ist bei den jungen Patienten schwierig und es können nur kleine Blutproben gewonnen werden. Wenn das Probenvolumen zu gering ist, muss auf die Analyse einiger diagnostischer Parameter verzichtet werden.
„Lab in a shoebox“ – präzise Analyse von sehr kleinen Blutvolumina
Hier kommt das Projekt „optION – Optischer Mikroringsensor zur quantitativen Bestimmung von Elektrolyten“ mit einem schnellen und hochempfindlichen Gerätekonzept ins Spiel. Es soll zukünftig eine präzise Analyse von sehr kleinen Blutvolumina ermöglichen. Durch die Kombination mit einem Mikrofluidik-Modul können mehrere diagnostische Parameter aus einer Blutprobe analysiert werden. Die Zielsetzung ist, aus 20 µL Blut oder weniger alle relevanten Elektrolytkonzentrationen bestimmen zu können. Die Plattformtechnologie soll in einem neuen, einfach zu handhabenden miniaturisierten Diagnose-Gerät münden, welches als „Lab in a shoebox”-Anwendung in z. B. ländlichen Gebieten oder der Notfallversorgung findet und die dynamische Gesundheitsversorgung bereichert.
Mit dieser Motivation vor Augen schlossen sich Forscher aus Medizin, Biofluidmechanik, Biochemie, Photonik und Elektronik interdisziplinär zusammen. Mit an Bord sind, neben zwei Instituten der Charité – Universitätsmedizin Berlin und dem Fraunhofer-Institut für Nachrichtentechnik, Heinrich-Hertz-Institut (HHI), der Medizintechnikhersteller Eschweiler GmbH aus Kiel und das Biotechnologieunternehmen Scienion GmbH Berlin.
Photonisch Integrierte Schaltkreise - kleiner, leichter, schneller
Die Sensorbasis entwickelt das Fraunhofer HHI, welches für die Erforschung von Optochips und Photonischen Integrierten Schaltkreisen (PICs) für Kommunikation, Sensorik und Quantentechnologie bekannt ist. Im Projekt optION wird das Know-How aus der Nachrichtentechnik in Biosensoren für Flüssigkeitsanalyse umgesetzt. Durch die hauseigene Technologie lassen sich etwa fingernagelgroße Chips in hoher Stückzahl kosteneffizient auf so genannten Wafern produzieren. Der im Projekt entstandene PIC basiert auf Siliziumnitrid- Material und ist mit winzigen Lichtwellenleitern, deren Durchmesser kleiner als ein Mikrometer ist, strukturiert. Das gegenüber der Umwelt sensitive Element bilden so genannte Mikroring-Resonatoren.
Wird Licht bestimmter Wellenlänge in die Wellenleiter eingestrahlt, so bildet sich ein evaneszentes Feld auf den Mikroring-Resonatoren aus. Dieses evaneszente Feld ermöglicht die quantitative Detektion unterschiedlicher Konzentrationen einer Lösung basierend auf der Änderung der Brechungsindizes dieser Lösungen. Des Weiteren können spezifische Bindungsereignisse qualitativ, aber auch quantitativ, detektiert werden. Dafür müssen die Mikroring-Resonatoren mit Ionophoren als Fängermoleküle funktionalisiert werden. Diese Fängermoleküle müssen in der Lage sein, die gewünschten Analyten, z. B. Elektrolyte, aus der Lösung gezielt und spezifisch zu binden. Ein erfolgreiches Bindungsereignis führt zu einer messbaren Resonanzverschiebung.
Funktionalisierung für labelfreie Multiparameter-Analyse in Echtzeit
Im Verbundprojekt liegt der Fokus von Scienion auf der Funktionalisierung der Mikroringresonatoren mit Fängermolekülen. Durch die Anwendung einer hochpräzisen Dispensiertechnologie in Picolitervolumenbereich ist die lokale und mikrometergenaue Beladung der Ringresonatoren mit den spezifischen Fängermolekülen möglich. Mittels dieser Technologie können Multiplex-Analysen zur simultanen Bestimmung von mehreren Analyten aus einer Probe realisiert werden. Auf dem Siliziumnitrid Chip, der im optION-Projekt entwickelt wurde, befinden sich acht dieser Mikroringresonatoren. Zur Immobilisierung der Ionophore müssen die photonischen Sensoren zunächst durch einen Silanisierungsprozess chemisch funktionalisiert werden. Dabei werden viele reaktive funktionale Gruppen auf der Chipoberfläche geschaffen, die zur kovalenten Anbindung der Fängermoleküle aus nur einigen hundert Pikolitern Dispensierlösung dienen.
Mikrofluidik ermöglicht optimale Überströmung mit wenigen Mikrolitern
Ein elementares Ziel ist es, die Diagnostik mit einer geringen Blutmenge von wenigen Mikrolitern durchzuführen. Hierfür muss die Probe kontrolliert über das Messfeld strömen und wieder abtransportiert werden. Diesem Baustein hat sich das Labor für Biofluidmechanik des Deutschen Herzzentrums der Charité gewidmet. Das Labor ist darauf spezialisiert, ingenieurwissenschaftliche Methoden auf Fragestellungen der Medizin anzuwenden. Schwerpunkt ist dabei die Strömungsmechanik in der Medizin. Die Entwicklung künstlicher Organe, neuer Medizinprodukte und Messtechniken gehört genauso dazu, wie der Einsatz von numerischen Methoden.
Die besondere Herausforderung innerhalb dieses Projektes ist es, eine bis zu 20 µl kleine Blutprobe möglichst blutschonend und luftblasenfrei zum Messfeld zu transportieren. Bereits kleinste Luftblasen stören das Messsignal und machen eine Messung unmöglich. Nach jeder Messung soll der Sensor durch einen Reinigungsvorgang aufbereitet werden und damit wiederverwendbar sein. Dazu wurde eine spezielle Mikrofluidik entworfen, die das luftblasenfreie Überströmen des Sensors ermöglicht. Diese besteht aus einer Rollerpumpe, einer Luftblasenfalle, einem Zuführungssystem und einer durch numerische Simulationen optimierten, dreidimensionalen Mikrofluidik-Kammer. Letztere wird auf dem nur 10 x 8 mm großen photonischen Sensorchip aufgeklebt und bildet eine 200 µm hohe Kammer über dem Messfeld. Im Entwicklungsprozess der Mikrofluidik wurden unterschiedliche Kammergeometrien durch rapid-prototyping mit 3D-Druckern gefertigt. Die präzisen Drucke der Stereolithografie-Drucker ermöglichen es, kostengünstig und in kurzer Zeit unterschiedliche Ansätze zu untersuchen.
Das Prinzip eines Point-of-Care Diagnosegerätes auf Basis der photonischen Chips verdeutlicht dieses Video ((C) Fraunhofer HHI):
Der Füllvorgang mit Blut sowie die Menge der Waschlösung und Dauer des Ausspülens der Kammer können durch numerische Simulationen und experimentelle Vorversuche ideal auf den Anwendungsfall des Point-of-Care-Systems angepasst werden. In Ergänzung werden die Wandschubspannungen während des Füllvorgangs und des Reinigungsprozesses numerisch berechnet. Die Geometrie und der Volumenstrom konnten so optimiert werden, dass eine vollständige Reinigung ermöglicht wird, ohne dass die angekoppelten Fängermoleküle von den Sensoren abgelöst werden.
Das Pump- und Zuführungssystem darf ebenfalls keinen schädigenden Einfluss auf den Zustand der Blutprobe haben. Daher werden relevante Blutparameter in experimentellen Vorversuchen im Labor für Biofluidmechanik vor und nach der Förderung durch die Mikrofluidik untersucht. Hierbei ist die enge Zusammenarbeit mit dem Anwenderpartner Eschweiler essenziell, da das Pump- und Spülsystem auf bereits bestehenden Systemen ihrer Produkte aus dem Bereich der Blutgas- und Elektrolyt-Analyseautomaten aufbaut.
Erwartetes Endergebnis stellt signifikanten Technologiesprung dar
Patientinnen und Patienten profitieren zukünftig von der zu entwickelnden Messtechnik durch die verringerte benötigte Probenmenge. Durch die Möglichkeit der umfassenden Analyse auch kleinster Probenvolumina können problemlos z. B. Kleinkinder, ältere Patienten oder Personen im Schockzustand untersucht werden. Rettungshelfern, behandelnden Ärzten sowie Laboratoriumsmedizinern wird es ermöglicht, aus kleineren Blutproben mehr Parameter zu analysieren und mehr Informationen über den Gesundheitszustand eines Patienten zu erhalten. Besonders in den Bereichen Pädiatrie und Notfallmedizin besteht ein hoher Bedarf an einer Multiparameter-Analytik aus Blutproben mit geringem Volumen.
Die vielen Vorteile für Anwender aus der Medizin machen deutlich, warum die Mitarbeiter des Instituts für Laboratoriumsmedizin, Klinische Chemie und Pathobiochemie der Charité – Universitätsmedizin Berlin das Projekt voranbringen wollen. Seit der Gründung im Jahre 1710 hat sich die Charité zur größten Universitätsklinik Europas entwickelt. Das Institut ist Teil des Charité-Centrums 5 für diagnostische und präventive Labormedizin. Zu den Kernkompetenzen zählen die Untersuchung von Blut und Körperflüssigkeiten für Diagnostik und Prävention, sowie laboratoriumsmedizinisches Qualitätsmanagement. In der klinikorientierten Forschung werden in-vitro-Diagnostika entwickelt und evaluiert, sowie neue Biomarker und Therapieansätze erforscht. Im optION-Verbund repräsentiert die Laboratoriumsmedizin die zukünftigen Anwender der neuen Messtechnik.
Durch das neue Konzept des Point-of-Care-Analysensystems der nächsten Generation eröffnen sich auch für Eschweiler völlig neue Geschäftsfelder. „Das erwartete Endergebnis stellt einen signifikanten Technologiesprung dar, da mit nur einem einzigen Sensor, bei deutlich verringertem Probenvolumen, mehrere Analyten gleichzeitig gemessen werden können. Wir erwarten, dass ein daraus zu entwickelndes Produkt sehr gute Chancen hat, am Markt zu bestehen“, sagt Sören Scholand, Projektmanager bei Eschweiler. Eine Sensorik basierend auf dem neuen kostengünstigen Messprinzip zeigt eine Vielzahl von deutlichen Vorteilen. Potenzial liegt außerdem nicht nur im Bereich der Medizintechnik. Das Konsortium arbeitet bereits Konzepte für Anwendungen im Bereich Life Science, Lebensmittelanalyse, Veterinärmedizin oder Umweltanalytik aus. Letzteres wird beispielsweise im Verbundprojekt Polychrome Berlin thematisiert. Von den kleinen Biosensoren darf also noch Großes erwartet werden. (ott)
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