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Längste je gemessene Halbwertszeit Dunkle-Materie-Detektor erfasst extrem seltenen Atomzerfall

Redakteur: Christian Lüttmann

Gegen diesen Prozess ist das Alter des Universums ein Wimpernschlag: Ein internationales Forscherteam hat die längste, jemals experimentell nachgewiesene Halbwertszeit gemessen. Dies gelang dank eines hochsensiblen Detektors, der zur Erforschung Dunkler Materie gebaut wurde.

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Das Xenon1t-Experiment im Gran-Sasso-Untergrundlabor mit der Zeit-Projektionskammer
Das Xenon1t-Experiment im Gran-Sasso-Untergrundlabor mit der Zeit-Projektionskammer
(Bild: XENON Collaboration)

Mainz, Münster – Etwa 14 Milliarden Jahre ist das Universum alt. Für uns Menschen eine unvorstellbar lange Zeit – im Verhältnis zu manchen physikalischen Prozessen ist das jedoch nur ein kleiner Moment. Einige radioaktive Atomkerne zum Beispiel brauchen um ein Vielfaches länger, um zu zerfallen. Ein internationales Forscherteam hat nun die längste jemals direkt in einem Detektor beobachtete Halbwertszeit gemessen. Mit dem „Xenon1t“-Instrument, das die Physiker eigentlich zur Suche nach Dunkler Materie einsetzen, gelang es ihnen zum ersten Mal, den Zerfall des Atoms Xenon-124 zu beobachten. Die dabei ermittelte Halbwertszeit ist über eine Billion Mal länger als das Alter des Universums.

Der identifizierte Prozess – der doppelte Elektroneneinfang von Xenon-124 – ist damit der seltenste jemals direkt in einem Detektor nachgewiesene Vorgang im Universum. „Dass es uns gelungen ist, diesen Vorgang zu beobachten, zeigt eindrucksvoll, welches Potenzial in unserer Messmethode steckt – auch für Signale, die nicht von Dunkler Materie herrühren“, sagt Prof. Dr. Christian Weinheimer, Teilchenphysiker an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (WWU), dessen Gruppe die Studie leitete.

Die Ergebnisse liefern darüber hinaus neue Informationen für Untersuchungen von Neutrinos, den leichtesten aller Elementarteilchen, deren Eigenschaften in vielen Aspekten immer noch mysteriös sind. Das Experiment Xenon1t ist ein gemeinschaftliches Projekt, an dem rund 160 Forscher aus Europa, den USA und dem Nahen Osten beteiligt sind. Aus Deutschland leisten das Max-Planck-Institut für Kernphysik in Heidelberg sowie die Universitäten Münster, Freiburg und Mainz zentrale Beiträge.

Suche nach dem Unwahrscheinlichen

1400 Meter tief im italienischen Gran-Sasso-Gebirge befindet sich das Untergrundlabor Laboratori Nazionali del Gran Sasso (LNGS), in dem die Wissenschaftler abgeschirmt von jeglicher Radioaktivität mit ihrem Experiment nach Teilchen der Dunklen Materie suchen. Bislang hat sie noch niemand entdeckt. Theoretischen Annahmen zufolge sollten diese Teilchen aber sehr selten mit einem Atomkern „zusammenstoßen“ – und auf Basis dieser Annahme funktioniert der Xenon1t-Detektor: Das Herzstück des Experiments ist ein zylinderförmiger Tank von etwa einem Kubikmeter Volumen, gefüllt mit 3200 Kilogramm flüssigem Xenon bei einer Temperatur von -95 °C. Prallt ein Teilchen der Dunklen Materie auf einen Xenon-Atomkern, überträgt es einen Teil seiner Bewegungsenergie auf den Kern, der daraufhin andere Xenon-Atome anregt und dadurch zum Leuchten bringt – so die Erwartungen nach dem aktuellen Stand der Physik. Diese sehr schwachen Signale aus ultraviolettem Licht werden im oberen und unteren Bereich des Zylinders von empfindlichen Lichtsensoren nachgewiesen. Dieselben Sensoren messen auch eine winzige Menge an elektrischer Ladung, die bei der Kollision ebenfalls frei wird.

Wie die Studie zeigt, ist der Xenon1t-Detektor auch in der Lage, andere seltene physikalische Phänomene zu messen – wie hier den doppelten Elektroneneinfang beim Zerfall von Xenon-124. Bei diesem Prozess fangen zwei Protonen des Kerns zwei Elektronen aus der innersten Schale des Atoms ein, wandeln sich in zwei Neutronen um und senden zwei Neutrinos aus. Da in der inneren Schale der Atomhülle nun zwei Elektronen fehlen, sortieren sich die übrigen Elektronen um. Dabei wird Energie frei, die in Form von Röntgenstrahlen und so genannten Auger-Elektronen ausgesendet wird. Der doppelte Elektroneneinfang geschieht allerdings extrem selten und wird von allgegenwärtigen Spuren „normaler“ Radioaktivität überdeckt. Daher sind diese Signale nur sehr schwer nachzuweisen. Zu den wichtigen Beiträgen der deutschen Gruppen zum Xenon-Experiment gehören verschiedene Methoden, störende Signale von Radioaktivität soweit wie möglich zu reduzieren.

Lichtblitze im Blindexperiment

Der Detektor zur Suche nach Dunkler Materie nutzt die schwachen Signale, die beim Zusammenprall von Teilchen freigesetzt werden: Die Röntgenstrahlen aus dem doppelten Elektroneneinfang innerhalb des flüssigen Xenons erzeugten ein erstes, kurzes Lichtsignal und freie Elektronen. Diese bewegten sich in den oberen Teil des Detektors, der mit gasförmigem Xenon gefüllt war, und erzeugten dort ein zweites Lichtsignal. Die Zeitdifferenz zwischen den beiden Signalen entspricht der Zeit, die die Elektronen brauchten, um oben anzukommen. Aus dieser Differenz sowie der Information, welche Lichtsensoren das zweite Signal „gesehen“ hatten, konnten die Wissenschaftler die Position bestimmen, an der der doppelte Elektroneneinfang stattgefunden hatte. Aus der Größe der Signale ermittelten sie die beim Zerfall freigewordene Energie.

Einblicke zum Bau des Detektors und der Arbeit der Forscher gibt es in diesem Video des Kanals LDC Audiovisivi:

Über ein ganzes Jahr lang speicherten die Wissenschaftler alle Signale, die während des Experiments auftauchten. Erst am Ende der Laufzeit durften die Forscher mit der Auswertung und Interpretation der Daten beginnen. Durch dieses Blind-Experiment wurde gewährleistet, dass die Ergebnisse nicht durch persönliche Erwartungen verzerrt wurden. Da die Wissenschaftler alle durch radioaktive Zerfälle verursachten Störsignale genau beschreiben konnten, war am Ende klar: Die 126 Signale im später aufgedeckten Bereich konnten nur vom doppelten Elektroneneinfang des Xenon-124 stammen.

Halbwertszeit übertrifft das Alter des Universums

Aus diesen nun erstmals beobachteten Kernzerfällen berechneten die Physiker, dass die Halbwertszeit des Xenon-124 rund 1,8×1022 Jahre betragen muss. Oder anders ausgedrückt: Etwa eine Billionen Mal das Alter des Universums. Dies ist der langsamste Prozess, der jemals direkt nachgewiesen werden konnte. Es ist zwar bekannt, dass das Atom Tellur-128 mit einer noch längeren Halbwertszeit zerfallen muss, allerdings wurde dieser Zerfall noch niemals direkt beobachtet. Wissenschaftler leiteten seine Halbwertszeit indirekt aus einem anderen Prozess ab. Die neuen Ergebnisse zeigen, wie präzise der Xenon1t-Detektor sehr seltene Zerfälle registrieren und Störsignale herausfiltern kann.

Ein anderer Detektor hilft bei dem Erstellen von Himmelskarten:

Beim beobachteten doppelten Elektroneneinfang handelt es sich um einen Zerfallskanal, bei dem zwei Neutrinos ausgesendet werden. Dieser liefert aber auch erste wichtige Erkenntnisse für Folgemessungen des so genannten neutrinolosen doppelten Elektroneneinfangs. Mit dessen noch ausstehender Entdeckung könnten wichtige Fragen zur Natur der Neutrinos beantwortet werden.

„Solche Analysen, wie sie die Universität Münster hier federführend erarbeitet hat, sind ein außerordentlich wertvoller Beitrag für das Verständnis der Kräfte im Atomkern und schärfen unser Verständnis für weitergehende Suchen nach neuer Physik in der Zukunft“, sagt Prof. Dr. Uwe Oberlack von der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU). Er zählt zu den Gründungsmitgliedern des Xenon-Programms zur Suche nach Dunkler Materie. „Das gute Zusammenspiel der beteiligten Institute liefert die Grundlage für das exzellente Funktionieren des Detektors, seine Kalibrierung und die Unterdrückung von Untergrund. Wir sind gespannt, wie unsere Suche nach Dunkler Materie in der nächsten Phase verläuft.“

Detektor soll noch sensibler werden

Der Detektor Xenon1t hat von Sommer 2016 bis Dezember 2018 Daten genommen und wurde dann abgeschaltet. Aktuell bauen die Wissenschaftler der Xenon-Kollaboration das Experiment für die neue Phase „XENONnT“ um, bei der die aktive Detektormasse verdreifacht wird. Zusammen mit einer weiteren Unterdrückung von Störsignalen aufgrund normaler Radioaktivität wird das den Detektor um eine Größenordnung empfindlicher machen. Auch in dieser Phase des Projekts sind die deutschen Gruppen federführend beteiligt.

Originalpublikation: XENON Collaboration: Observation of two-neutrino double electron capture in 124Xe with XENON1T. Nature 568, 532-535, 25. April 2019; DOI: 10.1038/s41586-019-1124-4

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