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Immunzellen im Hirn könnten bei Demenz-Prävention helfen Frühwarnsystem für vererbte Alzheimer-Erkrankung

Von Dr. Marcus Neitzert*

Das Gehirn reagiert wohl schon lange vor Ausbruch einer Alzheimer-Erkrankung mit Gegenmaßnahmen: Es aktiviert bestimmte Zellen, die womöglich eine Schutzfunktion gegen die Demenz haben. Dies fanden Forscher zumindest bei Patienten mit erblich veranlagter Alzheimer-Erkrankung heraus. Die Erkenntnisse könnten auch für andere Formen von Demenz neue Therapieansätze hervorbringen.

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Im Rahmen einer neuen Studie zu Alzheimer-Erkrankung wurden u. a. Untersuchungen des Gehirns durchgeführt (Symbolbild).
Im Rahmen einer neuen Studie zu Alzheimer-Erkrankung wurden u. a. Untersuchungen des Gehirns durchgeführt (Symbolbild).
(Bild: DZNE / Frommann)

Bonn, München – Etwa 1,6 Millionen Menschen in Deutschland leben mit Demenz, meist in Form der Alzheimer-Erkrankung. Bei etwa einem Prozent der Alzheimerpatienten ist die Krankheit auf eine Genmutation zurückzuführen, die von Generation zu Generation vererbt werden kann. Dieser erblichen Form von Alzheimer gehen Forscher des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) und der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) nach.

Für neue Untersuchungen analysierte ein Team um den Molekularbiologen Prof. Christian Haass und der Neurologin Dr. Estrella Morenas-Rodríguez die Immunzellen des Gehirns, die so genannten Mikroglia. Sie wollten herausfinden, inwieweit eine erhöhte Aktivität der Mikroglia mit der Entwicklung bestimmter Biomarker der Alzheimer-Erkrankung zusammenhängen. Hierfür analysierten die Wissenschaftler das Nervenwasser und die geistige Leistungsfähigkeit von 248 Teilnehmenden der internationalen Beobachtungsstudie DIAN (Dominantly Inherited Alzheimer Network) über mehrere Jahre hinweg. So deckten die Studienleiter die verschiedenen Stadien der Alzheimer-Erkrankung ab. Die Probanden wurden außerdem mittels Magnetresonanztomografie (MRT) und Positronen-Emissionstomografie (PET) untersucht, um eine Schrumpfung des Gehirns und die so genannte Amyloid-Pathologie zu erfassen – beides sind Kennzeichen von Alzheimer.

Schädlich oder schützend? Ambivalente Immunzellen

Ausgangspunkt für das Forscherteam war ein Eiweißstoff namens TREM2. „Das ist ein Rezeptor auf der Oberfläche von Mikroglia, Teile davon können sich jedoch ablösen und sind dann im Nervenwasser nachweisbar“, sagt Haass, der als Forschungsgruppenleiter am DZNE und als Professor für Biochemie an der LMU München tätig ist. „Man weiß aus Laborstudien, insbesondere an Mäusen, aber auch aus unseren vorherigen Studien am Menschen, dass der Spiegel von TREM2 im Nervenwasser ein guter Indikator für die Aktivität der Mikroglia ist. TREM2 ist eine Art Aktivitätsschalter. Mit dem TREM2-Spiegel wächst auch die schützende Aktivität der Mikroglia.“

Lange sei man davon ausgegangen, dass die Mikroglia im Zuge von Alzheimer hauptsächlich schaden, da sie chronische Entzündungsprozesse befeuern können, wie der Biochemiker erklärt. „Es mehren sich jedoch die Hinweise dafür, sowohl aus meinem Labor als auch von vielen anderen, dass die Mikroglia zumindest am Anfang der Erkrankung eine Schutzwirkung haben. Diese Vermutung wird durch unsere aktuellen Daten bestärkt.“

Der besondere Fortschritt des Forscherteams war, dass sie erstmals Veränderungen der Biomarker über die Zeit bei ein und demselben Patienten beobachten konnten. „Wir haben den Marker in mehreren Proben gemessen, die jeweils von denselben Personen stammten und alle ein oder zwei Jahre entnommen wurden. Damit könnten wir die Entwicklung der verschiedenen Prozesse, die bei der Alzheimer-Krankheit ablaufen, besser erfassen als mit der Untersuchung von Proben zu nur einem einzigen Zeitpunkt“, erklärt Morenas-Rodríguez, die zum Zeitpunkt der Studie Postdoc-Wissenschaftlerin im Team von Haass war und nun Juniorgruppenleiterin am Hospital Universitario 12 de Octubre in Spanien ist.

Krankheit zeigt sich 20 Jahre vor Ausbruch

Menschen mit einer genetischen Veranlagung für Alzheimer erkranken i. d. R. im ähnlichen Alter wie ihre Verwandten mit der gleichen Mutation, die Demenzsymptome bereits aufweisen. Anhand dieser Erfahrungswerte schätzten die Forscher den Zeitraum bis zum Ausbruch von Symptomen für alle Studienteilnehmer individuell ab. Dabei stießen sie auf frühzeitige Anzeichen einer Erkrankung. „Wir haben festgestellt, dass der TREM2-Wert im Nervenwasser bereits bis zu 21 Jahre vor dem geschätzten Ausbruch der Erkrankung ansteigt“, sagt Haass. „Außerdem haben wir beobachtet, dass, je schneller TREM2 im Laufe der Jahre ansteigt, desto langsamer schreiten im Gehirn krankhafte Prozesse voran, die für Alzheimer typisch sind. Das können wir aus Biomarkern für so genannte Amyloid-Proteine und Tau-Proteine ableiten.“

Die Untersuchungen des Gehirns mittels MRT und PET wiesen in eine ähnliche Richtung: Bei Studienteilnehmern, bei denen der TREM2-Wert rasch anstieg, entwickelten sich die für Alzheimer charakteristischen Ablagerungen von Amyloid-Proteinen langsamer und das Hirnvolumen ging langsamer zurück. „Neben dem Zusammenhang mit einem langsameren pathologischen Prozess war es einer unserer wichtigsten und vielversprechendsten Befunde, dass der schnellere TREM2-Anstieg mit einem langsameren kognitiven Abbau in einem frühen Stadium der Alzheimer-Krankheit einhergeht. Das hat wichtige Auswirkungen auf die Behandlung“, führt Morenas-Rodríguez aus.

Die Forscher sehen ihre Befunde als Beleg dafür, dass die von TREM2-vermittelte Aktivität der Mikroglia eine schützende Wirkung hat. „Nach unserer Ansicht werden die Mikroglia aktiv, sobald sich erste Amyloid-Proteine im Gehirn ablagern. Diesen Vorgang nennt man Seeding“, erklärt Forschungsgruppenleiter Haas. „Sie werden also schon in einer extrem frühen Phase der Alzheimer-Erkrankung aktiv, lange bevor Ärzte Auswirkungen auf die Gedächtnisleistung sehen. Das beobachten wir und unsere Kolleginnen und Kollegen vom DZNE-Standort Tübingen auch im Tiermodell.“

Ansatz für neue Therapien

Schon seit einiger Zeit forscht das Team um Haass an Wirkstoffen, die die schützende Wirkung der Mikroglia gezielt stärken sollen. Als Ansatzpunkt dient der auf der Zelloberfläche verankerte TREM2-Rezeptor. Noch seien die Wissenschaftler in der Laborphase. Die aktuellen Ergebnisse beim Menschen zeigen jedoch, dass die Beeinflussung von TREM2 eine vielversprechende Strategie ist, um neue Optionen gegen Alzheimer zu entwickeln, wie Haas erklärt. „Auch wenn wir in diesem speziellen Fall die genetisch bedingte Form der Erkrankung untersucht haben, gehen wir davon aus, dass unsere Befunde auch für die so genannte sporadische Krankheitsvariante gelten, die weitaus häufiger vorkommt. Entscheidend ist sicherlich, dass die Behandlung frühestmöglich beginnt. Die heutigen Therapien kommen alle viel zu spät, um wirklich wirksam zu sein“, sagt der Biochemiker.

Originalpublikation: Estrella Morenas-Rodríguez et al.: Soluble TREM2 in CSF and its association with other biomarkers and cognition in autosomal-dominant Alzheimer’s disease: a longitudinal observational study, The Lancet Neurology (2022); DOI: 10.1016/S1474-4422(22)00027-8

* Dr. M. Neitzert, Deutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen, 53175 Bonn

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