Frauen in der Corona-Krise „In der Chemiebranche sind Frauen sehr einsam“
In der Pandemie erleben alte Geschlechterrollen ein Comeback. Wieso das für die Industrie zu einem echten Problem werden könnte – Diversity-Expertin Barbara Lutz hat es uns erklärt.
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Kennen Sie noch „Frau Renate“? In den 50ern verkörperte diese Werbefigur das, was sich die Gesellschaft unter einer perfekten Ehefrau vorstellte. Ihr Alltag bestand aus Kochen, Putzen, Kinder hüten. „Eine Frau hat zwei Lebensfragen“, heißt es in einem TV-Spot, „Was ziehe ich an? Und was bringe ich auf den Tisch?“
Man möchte meinen: Heute wäre dieses Frauenbild undenkbar. Jüngste Studien allerdings lassen daran Zweifel aufkommen. Denn während Lockdown und Homeschooling fallen viele Familien zurück in alte Geschlechterrollen. Die Beteiligung von Frauen am Arbeitsmarkt sinkt dramatisch. Welche Folgen hat das für die Chemieindustrie? Darüber haben wir mit Diversity-Expertin Barbara Lutz gesprochen. Seit 10 Jahren berät sie mit ihrer Organisation, dem Frauen-Karriere-Index, Betriebe dazu, wie sie ihre Chancengleichheit verbessern.
Frau Lutz, in vielen Familien sieht es heute wieder so aus wie im vorigen Jahrhundert – Papa geht arbeiten, Mama hütet die Kinder. War die Gleichstellung in Deutschland nicht schon mal weiter?
Wir dachten es zumindest! Corona aber hat uns gezeigt, wie die Realität wirklich aussieht: Kindererziehung und Haushalt sind immer noch überwiegend Frauensache. Und dabei ist es egal, ob sie obendrein einen Vollzeitjob stemmen oder nicht.
Trotzdem hat sich in den letzten Jahren aber doch einiges getan, oder nicht?
Das stimmt, vor allem für jüngere Generationen ist Chancengleichheit inzwischen selbstverständlich. Wer heute Vater wird, teilt sich familiäre Aufgaben fair mit seiner Partnerin. Trotzdem hinken wir anderen Ländern noch weit hinterher. Das liegt nicht nur an verstaubten Rollenbildern, sondern auch am völligen Versagen der Gleichstellungspolitik.
Haben Sie da ein Beispiel für mich?
Schauen Sie etwa auf das Elternzeitgesetz. Darin ist festgelegt: Wer ein Kind bekommt, darf zur Betreuung drei Jahre zuhause bleiben. In der Theorie klingt das erst mal super – tatsächlich suggeriert die Politik hier aber: Wir fänden es gut, wenn Du, liebe Frau, drei Jahre Deinen Job niederlegst und zuhause die Kinder hütest.
...wobei sie ja auch einfach verkürzen könnte?
Was glauben Sie, wie vehement sich eine Mutter in Deutschland rechtfertigen muss, die ihre Elternzeit verkürzt! Da hören Sie „Rabenmutter“, „die lässt ihre Kinder im Stich“ und den ganzen anderen Nonsens – ich habe das selbst nach der Geburt meiner beiden Kinder erlebt. Besser wäre ein Modell wie in Spanien: Dort gilt die Elternzeit gleichzeitig für beide Partner.
Blicken wir einmal auf die deutsche Industrie: Sie beraten jährlich mehr als 50 Betriebe verschiedener Branchen dazu, wie sie Frauen in ihrem Unternehmen fördern können. Wie gut steht es um die Chancengleichheit in der Chemie?
Der Chemiesektor hat einen entscheidenden Vorteil: Es gibt hier vergleichsweise viele weibliche Studierende, über 40 %. Bei einigen Fächern liegt die Frauenquote sogar noch höher, beispielsweise in der Lebensmittelchemie mit 70 %. Theoretisch haben Unternehmen also ein großes weibliches Potenzial, das sie nutzen könnten.
Und praktisch?
Tun sie es leider nicht: In den 20 umsatzstärksten Chemieunternehmen machen Frauen nur 17,5 % der Vorstände aus! Zwar gibt es einige Leuchtturm-Beispiele, doch vor allem in den knapp 2000 kleinen und mittleren Betrieben der Branche sind Frauen sehr einsam.
Woran liegt das?
Viele Betriebe stellen immer wieder denselben Mitarbeiter-Typus ein – und das sind eben immer noch nur wenige Frauen. Es herrscht Buddy-Kultur statt einem transparenten und professionalisierten Recruiting. Dass viele Mütter während der Pandemie ihre Arbeitsstunden für die Kinderbetreuung reduzieren, verstärkt dieses Phänomen noch. Für echte Innovationskraft ist das pures Gift.
Wenn Sie von einem immer gleichen Mitarbeitertypus sprechen, meinen Sie also den „alten, weißen Mann“?
Nein, ausdrücklich nicht. Dem Geprügele auf alte, weiße Männer will ich mich nicht anschließen. Zwar macht diese Gruppe den größten Teil der Führungskräfte in der Chemie aus, das ist aber historisch gewachsen. Die Tatsache, dass jemand dazugehört, sagt ja noch nichts über das Mindset der einzelnen Person aus.
Was meinen Sie dann mit dem „puren Gift für Innovationskraft“?
Ich meine das „Weiter so“ vieler KMU. Das Denken: Was in den letzten Jahren funktioniert hat, wird mir auch in der Zukunft gute Dienste tun. Und Diversität ist, wenn überhaupt, nur eine schmückende Facette – das stimmt nämlich nicht. Klug wäre es jetzt, kreative Leute einzustellen. Menschen, die über Abteilungsgrenzen hinwegsehen. Die Geschäftsmodelle radikal neu denken wollen. Die keine Lust haben auf Hierarchieren. Nur eben die finden heute zu oft noch kein Zuhause im Mittelstand.
Welche Folgen hat das für den Chemiestandort Deutschland?
Ganz fatale! Ich mache mir große Sorgen um die deutsche Chemieindustrie. Schon heute verlieren wir jährlich Zehntausende hochqualifizierte Fachkräfte ans Ausland. Und warum? Weil sie sich dort kreativer austoben und ihre Fähigkeiten besser einsetzen können, weil dort eine diversere Kultur vorherrscht. Das betrifft übrigens nicht nur Frauen, sondern auch viele andere junge Menschen.
Manche*r wird jetzt fragen: „Aber was sollen wir tun, wir finden halt keine Frauen?“
Sorry, da muss ich etwas schmunzeln, denn das höre ich tatsächlich andauernd – vor allem von deutschen Headhuntern. Aber was steckt dahinter? Wenn ich seit Jahren nur Männer vermittle, ist in meinem Netzwerk selbstverständlich keine einzige Frau! Mein Tipp an Betriebe: Holen Sie sich internationale Unterstützung. Headhunter etwa aus Großbritannien sind deutlich weiter.
Welchen Appell möchten Sie unseren Leser*innen zum Schluss noch mit auf den Weg geben?
Hören Sie auf mit „Weiter so”. Und verstehen Sie: Der Rückfall in alte Rollenbilder stellt für die Chemie eine massive Bedrohung dar. Chancengleichheit ist kein Frauen-, sondern ein Mindset-Thema! Vielfalt ist nicht bloß ein positives Signal nach außen, Sie können damit maßgeblich Ihre Innovationskraft steigern.
Dieser Beitrag erschien zuerst auf unserem Schwesterportal process.de.
* Sebastian Hofmann ist Fachredakteur „Job & Karriere“ bei der Vogel Communications Group.
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