Wert von Negativ-Ergebnissen in der Chemie Mut zum Scheitern – warum Forscher auch Fehlschläge publizieren sollten
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Das Medikament wirkt nicht gegen Krebs, der Katalysator beschleunigt die Reaktion nicht, die Synthese misslingt. Obwohl all dies eher nach Versagen klingt, sind solche Negativ-Ergebnisse durchaus wichtig für die Forschung. Wie negative Ergebnisse die Planung von chemischen Synthesen verbessern, erklären Forscher aus Münster.

Münster – Unzählige chemische Experimente sind in Datenbanken zugänglich. Dennoch sind diese Daten nicht gut genug, um mithilfe von künstlicher Intelligenz (KI) und maschinellem Lernen bei neuen Synthesen Produktausbeuten vorherzusagen. Zu diesem Schluss kommt ein Forscherteam um Prof. Dr. Frank Glorius von der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (WWU).
Datenschieflage erschwert Vorhersage von Reaktionen
Bei der Vorhersage von Molekülstrukturen und Materialeigenschaften leisten maschinelle Lernwerkzeuge bereits sehr viel. Geht es aber konkret um die Produktausbeute bei einer Synthese, liefern KI-basierte Modelle nur ungenaue Vorhersagen, stellten die Studienautoren fest. Den Grund für das Scheitern identifizierten sie in der Qualität der Daten, auf die die KI zurückgreift. „Die Vorhersage von Reaktionsausbeuten, also der Reaktivität, ist viel herausfordernder als die Vorhersage von molekularen Eigenschaften. Ausgangsstoffe, Hilfsstoffe, Mengen, Bedingungen, Ausführung des Experiments – sie alle bestimmen die Ausbeute, was bedeutet, dass dieses Problem sehr datenintensiv wird“, erklärt Frank Glorius, Korrespondenzautor der Studie. Trotz der riesigen Menge an verfügbarer Literatur reichten die Daten also nicht aus, um Ausbeuten korrekt vorherzusagen.
Das Problem liege dabei häufig nicht an zu wenig berichteten Experimenten, sondern an einer Datenschieflage. Drei mögliche Ursachen identifizierten die Autoren:
- Zum einen unterliegen die Ergebnisse von chemischen Synthesen grundsätzlich experimentellen Fehlern.
- Zweitens treffen Wissenschaftler bei ihrer Reaktionsplanung mehr oder weniger bewusst eine Vorauswahl, die auf persönlicher Erfahrung und Vertrauen in etablierte Verfahren beruht.
- Und drittens melden sie fehlgeschlagene Reaktionen weniger häufig als erfolgreiche – vermeintlich führen nur Reaktionen mit einem positiven Ergebnis zu einem wissenschaftlichen Fortschritt.
Der größte Einfluss auf Vorhersagemodelle ist…
Um herauszufinden, welcher der drei Faktoren den größten Einfluss hat, veränderten Glorius und sein Team den Datensatz für vier gängige (und daher datenreiche) organische Reaktionen. Sie erhöhten z. B. künstlich den experimentellen Fehler, reduzierten die Daten auf eine noch kleinere Vorauswahl, oder sie nahmen aus dem Datensatz negative Ergebnisse heraus. Das Ergebnis ihrer Manipulationen: Am wenigsten Einfluss auf das Modell hatte der experimentelle Fehler, sehr groß war dagegen der Einfluss der negativen Ergebnisse.
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Retrosynthese
Chemische Synthese mit künstlicher Intelligenz
Wissenschaftler sollten also unbedingt ermutigt werden, fehlgeschlagene Ergebnisse ebenfalls zu berichten, schreibt das Team. Damit verbessere sich die Datenlage, und KI-basierte maschinelle Lernmodelle können die Arbeit beschleunigen und effizienter machen. „Maschinelles Lernen wird die Effizienz in der (molekularen) Chemie dramatisch verbessern. Chemiker kommen mit weniger Reaktionen aus, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen wie zum Beispiel optimale Ausbeuten. Dadurch werden chemische Prozesse – und die Welt – nachhaltiger“, bekräftigt Glorius.
Originalpublikation: Dr. Felix Strieth-Kalthoff, Dr. Frederik Sandfort, Marius Kühnemund, Felix R. Schäfer, Prof. Dr. Herbert Kuchen, Prof. Dr. Frank Glorius, In memoriam Professor David A. Evans: Maschinelles Lernen zur Vorhersage chemischer Reaktivität: Die Bedeutung “gescheiterter” Experimente, Angewandte Chemie, First published: 05 May 2022; DOI: 10.1002/ange.202204647
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