Nahrungsersatz Nie wieder essen
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Sie sind ein Genießer? Sie können sich wenig Schöneres vorstellen, als in einem guten Restaurant exquisite Speisen zu sich zu nehmen und in außergewöhnliche Geschmackswelten einzutauchen? Dann ist Soylent nichts für Sie. Betrachten Sie die Nahrungszubereitung und -aufnahme hingegen als lästiges Übel, das Sie sich lieber sparen wollten, dann sollten Sie unbedingt weiterlesen. Dann könnte Soylent genau Ihr Ding sein.

Rob Rhinehart wollte Zeit sparen. Und Abwasch, nicht zuletzt Geld. Der IT-Ingenieur mochte Einkaufen, Kochen und Essen nie besonders und suchte nach Optimierungsstrategien. Er ging die Sache wissenschaftlich an und sammelte validierte Informationen darüber, wie nach dem aktuellen Stand der Ernährungslehre die ideale Nahrungsmittelzusammensetzung aussehen müsste.
Er schuf Soylent, das sich von anderen Nahrungsersatz- oder -ergänzungsmitteln grundsätzlich unterscheidet. Es soll jegliche andere Nahrung komplett ersetzen, auch über einen längeren Zeitraum. Es geht also nicht um den Proteinschub nach dem Training oder Elektrolyte bei Durchfall. Es geht um die Möglichkeit, Ernährung einmal ganz anders anzugehen und klassische Nahrungsmittel im Extremfall ganz zu ersetzen.
Ist Soylent Menschenfleisch?
Wirklich sehr unkonventionell ist auch die Namenswahl. Sie ist aus Marketingsicht entweder äußerst unglücklich oder eine clevere Provokation – wahrscheinlich Letzteres. Denn der Name geht auf das fiktionale Nahrungssubstrat „Soylent Green“ zurück. Der Science-Fiction-Autor Harry Harrison schuf 1966 seinen dystopischen Roman „New York 1999”, in dem die Erde katastrophal verwüstet ist. Nur eine unanständig reiche Elite kann sich Nahrung in Form von Soylent Green leisten, das in der Roman-Verfilmung „…Jahr 2022… die überleben wollen“ sogar aus Menschen hergestellt wird.
Recycling auf die ganz perverse Art also. Im tatsächlichen Soylent des Jahres 2014 sind keine Menschen verarbeitet. Und auch Soja, das manche Menschen wegen gentechnischer Veränderung und ominöser Toxine meiden, ist bis auf Spuren von Sojalecithin nicht enthalten. Das Englische „soy“ für Soja war lediglich in der Romanversion noch ein Hauptbestandteil.
Von der Nerd-Diät zum Trend-Unternehmen
Rhinehart mischte zu Hause also das Notwendige in einer Art Shake zusammen und ließ es einfach darauf ankommen, sich für einige Wochen nur noch von dieser Mischung zu ernähren. Nach einigen Wochen fühlte er sich besser, mit mehr Energie und weniger belastet – nicht nur wegen des auf ein Minimum reduzierten Aufwands. Seine Erfahrungen hat er in seinem englischsprachigen Blog festgehalten, den er mit „Wie ich aufhörte zu essen“ überschrieb.
Dann gründete er sein Unternehmen. Per Crowdfunding fanden sich schnell ausreichend Menschen, die bereit waren, kleinere Beträge in die Idee zu investieren. Rhinehart stellte einige junge Leute an, die Soylent seit Anfang 2014 eintüten und innerhalb der USA versenden. In Deutschland ist es noch nicht erhältlich, Expansionspläne sind aber in Vorbereitung.
Essen per Paketbestellung
Der Absatz ist reißend, Neubesteller müssen bis zu drei Monate auf ihr Soylent-Paket warten. Dafür bekommen sie einen Messlöffel und einen dicht schließenden Krug für die optimale Zubereitung und Aufbewahrung der Wundersuppe dazu. Im Abo geht es schneller und billiger: Dann kostet das Monatspaket Soylent 255 Dollar, was aktuell 187 Euro entspricht. Wer sich so lange nicht binden will, muss zwar mehr zahlen, kann sich aber damit trösten, dass es ein 30-Tage-Rückgaberecht gibt.
Die Kosten will Rhinehart bald auf 5 US-Dollar am Tag senken, was den tatsächlichen Minimalkosten durchschnittlicher US-Amerikaner für Lebensmittel entspricht, wenn sie Essen und Getränke ausschließlich zu Hause zubereiten. Das tun sie aber gewöhnlich nicht. Anders als die Deutschen geben Amerikaner noch einmal soviel Geld in Restaurants, Fastfood-Läden und beim Bestellservice aus. Das machte Soylent für Anspruchslose in Amerika also tatsächlich zur Spardiät.
Was ist DAS denn?
Soylent ist ein dickflüssiges Getränk, das von den meisten Menschen als Brühe oder Pampe bezeichnet wird. Für manche schmeckt es nach nichts, andere bezeichnen es als aufgeweichte Pappe und ganz wenige Einzelpersonen sind sogar der Meinung, es schmeckte gar nicht schlecht, zumindest nicht schlechter als viele handelsübliche Eiweißshakes. Ob’s an so geschmackvollen Inhaltsstoffen wie Molybdän oder Chrom liegt? Wohl kaum, denn auch die giftigsten Elemente braucht der Körper in Spuren. Die verwendeten Einzelzutaten für das kommerzielle Soylent sind jedenfalls von der FDA jeweils als unbedenklich eingestuft worden.
Die Zubereitung könnte nicht leichter sein: ein Messlöffel Wasser und ein Messlöffel Soylent-Pulver, dazu ein kleines Fläschchen Ölformel, 10 Minuten stehen lassen. Fertig. Weder müssen die Komponenten gekühlt, noch die Mischung erhitzt werden. Das angerührte Soylent ist im Kühlschrank bis zu zwei Tage haltbar. Die Ölbeimischung liefert vor allem Omega-3-Säuren und dient der Kalorienregulierung. Den aktuellen Ernährungsempfehlungen entsprechend kommen im Normalpaket zwei Drittel der zugeführten Energie aus dem Fett. Lässt man die Ampulle weg, spart man entsprechend Energie und sogar 100 Prozent Cholesterin. Vegetarier und Veganer können auch nur das Pulver bestellen, bekommen kein Fischöl und fügen stattdessen ein selbst gewähltes Fett hinzu.
Was gibt’s Neues?
Bei genauer Betrachtung ist das alles aber gar nicht so revolutionär. Ersatznahrung gibt es schon mindestens 100 Jahre. In der alltäglichsten Form wird sie in Familien per Flasche zugeführt. Babys, die nicht voll gestillt werden, können allein mit Pulvermilch über Wochen wachsen und gedeihen. Koma-Patienten werden flüssig IV ernährt, Sportler rühren sich bunte Proteinshakes an und selbst im All umkreisen extrem optimierte Lebensmittel die Erde – auch wenn die Astronauten jenseits von Tag- und Nachtgefühl demnächst Zugang zu echtem Koffein bekommen.
Experten sprechen bei Soylent allenfalls von einer Marketing-Revolution im Rausch der amerikanischen Start-up-Welle. Die erstaunlich hohe Nachfrage wird dazu führen, dass die Produktion optimiert und die Kosten gesenkt werden. Das würde sich zum Vorteil gegenüber medizinischen Präparaten und anderen frei verkäuflichen Nahrungsersatzsystemen entwickeln.
Wer kauft denn sowas?
Hoffnungen auf Soylent machen sich beispielsweise Essgestörte, die darauf bauen, dank der günstigen Ersatznahrung mit schlechten Gewohnheiten zu brechen und ihre Ernährung einmal auf null zurückzustellen. Die Zäsur könnte ihnen entgegenkommen, denn anders als Nikotin und Alkohol kann man das Essen nicht ganz lassen. Fett- und Magersüchtige hingegen müssen einen sinnvollen Umgang mit Versuchungen und Notwendigkeiten erlernen.
Perfektionisten ohne ästhetische Ansprüche begeistern sich für die minimalistische Herangehensweise: alles Nötige und davon genau die richtige Menge. Kritiker meinen allerdings, dass es so einfach nicht ist. Die labortechnische Mischung der „reinen“ Nährstoffe ist nicht dasselbe wie die Zuführung in Form eines Steaks oder einer Banane. Die Zusammensetzung im echten Fleisch oder Obst ist von der Natur so abgestimmt, dass sich die Inhaltsstoffe gut ergänzen. In der Kombination können die wertvollen Stoffe vom Körper besser verwertet werden.
Das geht so nur in Amerika
Die größte Kundengruppe scheint aus Bequemen und Küchen-Analphabeten zu bestehen, zu denen wahrscheinlich auch Rhinehart gehört. Sie behaupten von sich, kaum Wasser kochen zu können. Und oft auch keine Lust auf Küchenarbeit zu haben. Deshalb ist Soylent womöglich so erfolgreich auf dem amerikanischen Muttermarkt. Der in Deutschland ausgebrochene Bio-Boom ist im Land von XXXXL-Mahlzeiten, allgegenwärtigen Geschmacksverstärkern und Adipositas nicht vorstellbar. Eine kleine Gruppe vorwiegend berühmter Leute isst nach neuesten Erkenntnissen, die große Mehrheit aber hat gegenüber den industriellen Versprechungen keine Chance.
Die Wenigsten wissen, was sie essen, was ihr Körper braucht und wie sie es am besten zuführen. Stattdessen werden sie den ganzen Tag von kaum regulierter Werbung bombardiert, deren Schwerpunkt auf möglichst großen Portionen, viel (vorwiegend künstlichem) Geschmack und keinesfalls auf der Qualität der Nahrungsmittel liegt. Für sie kann Soylent eine Alternative sein: stets verfügbar, schnell zubereitet, sättigend ohne Zuckerflash oder verführerischen Geschmack.
Nur noch kurz die Welt retten
Rhinehart hat aber noch eine andere Vision. Wie es sich für einen aufstrebenden Unternehmer im Land der unbegrenzten Möglichkeiten gehört, will er jenseits der Wohlstandsprobleme seiner Landsleute nichts weniger als den Hunger in der Welt bekämpfen. Er plant, Soylent langfristig noch günstiger herzustellen und in den Ländern der Dritten Welt abzusetzen. Wo die Menschen nicht einmal das Notwendigste zum Leben haben, könnte eine Art Soylent tatsächlich Leben retten.
Dem Einwand, dass auch Soylent Wasser braucht, begegnet er gelassen und bietet an, die passende Anlage zur Trinkwasseraufbereitung gleich mit zu liefern. Außerdem ist offensichtlich, dass Gebiete, in den selbst sauberes Wasser knapp ist, keine besseren Optionen für die Nahrungsmittelversorgung haben. Er geht global gesehen sogar davon aus, dass die ständig weiter steigende Erdbevölkerung in naher Zukunft keine andere Wahl hat, wenn alle Menschen satt werden sollen.
Soylent im Härtetest
Ein deutscher Blogger hat die Idee der perfekten Minimalnahrung aufgegriffen und den Selbsttest mit einer eigenen Mischung gemacht. Er hat sich vor und während seines Versuchs regelmäßig ärztlich untersuchen lassen und scheint davon profitiert zu haben. Seine Beobachtungen, die sich auch auf ein positives Körpergefühl beziehen, decken sich mit den Beschreibungen von Rhinehart.
In einer Dokumentation macht schließlich ein englischsprachiger Blogger den Test mit der käuflichen Soylent-Mixtur. Er stellt auch die erstaunliche Firmenhistorie vor und spricht persönlich mit Rob Rhinehart. Außerdem stellt er fest, dass die Hygienevorschriften in den USA für Soylent als Nahrungsergänzungsmittel weit weniger anspruchsvoll sind als die für reguläre Lebensmittel, was dem eilends aufgebauten Unternehmen wohl entgegenkommt.
Soylent Marke Eigenbau
An der Rezeptur wird laufend gearbeitet. Ursprünglich gab es beispielsweise jeweils eine Version für Frauen un Männer. Nun soll eine Unisex-Variante die optimale Zusammensetzung für alle bieten. Anscheinend versprechen sich die Hersteller Inspirationen auch von einer Unterseite des Blogs Dort kann sich jedermann auf die Suche nach dem perfekten Supershake jenseits der kommerzialisierten Version von Soylent machen. Und Rhinehart liest mit. Nur so ist der Ansatz zu erklären, diese Plattform zu bieten, die auf den ersten Blick das eigene Geschäftsmodell untergräbt.
Recht viele Menschen weltweit begeistern sich privat für die Idee. Da geht es dann um diätische Varianten, solche, die noch ein bisschen Kaubeschäftigung bieten und geschmackliche Aspekte wie etwa das Aroma von diversen Obstsorten oder Schweinefleisch. Zielgruppen wie Vegetarier, Laktoseabstinente oder Bodybuilder finden das Passende. Wer mag, kann auch nach dem Herkunftsland der Kreateure sortieren. Die Rezepturen sind detailliert aufgeführt, einschließlich aller Nährwerte und möglicher Bezugsquellen. Manche Bestandteile scheinen unersetzlich, etwa Fischöl für die Versorgung mit Omega-Fettsäuren.
Soylent kann was
Soylent hat viele Vorteile: Es ist ohne besondere Umgebungsbedingungen lange haltbar, wobei alle Nährstoffe vollständig erhalten bleiben. Letzteres gilt auch für die Zubereitung: Nichts wird zerkocht, die hitzeempfindlichen Vitamine können wirken. Außerdem hat es nicht mit typischen Verunreinigungen natürlicher Produkte (etwa Pestizide oder Antibiotika) zu kämpfen und ist ohne exzessive Landwirtschaft aus chemisch reinen Zutaten herzustellen. Der pragmatische Esser erhält genau die Kalorienanzahl, die er bei seinem individuellen Lebensstil braucht, um sein optimales Gewicht zu erreichen und dann zu halten. Die Modifikation zum Ab- oder Aufbau von Gewicht ist leicht einstellbar.
Dazu kommt eine Reihe subjektiver Verbesserungen: Manche Leute schlafen besser. Keiner leidet Hunger. Andere beschreiben ein Hochgefühl, wie es auch bei Fastenden auftritt. Es ist vermutlich darauf zurückzuführen, dass das Verdauungssystem sozusagen unterbeschäftigt ist und sich der Mensch einfach „leichter“ fühlt. Die Bequemen empfinden den Zeitgewinn beim gleichzeitigen Wissen, versorgt zu sein, als sehr positiv. Ein Heißhunger auf das aroma-arme Soylent ist unwahrscheinlich.
Nachteile
Soylent basiert auf wissenschaftlichen Erkenntnissen. Aber die können sich ändern. Die ausgewählten Nährstoffmengen sind möglicherweise nicht absolut zuverlässig. Zwar kündigt der Hersteller an, die Rezeptur immer an aktuellste Erkenntnisse und die Nutzerwünsche anzupassen, aber einige unbestrittene Nachteile bleiben dennoch erhalten.
Die Mund- und Kiefermuskulatur wird bei einer ausschließlichen Soylent-Ernährung schlicht nicht gebraucht und wird auf lange Sicht (allerdings reversibel) verkümmern, wenn nicht mit Kaugummis entgegengewirkt wird. Magen und Darm verlieren bei ausschließlich flüssiger und extrem reduzierter Nahrung an Kraft und Anpassungsfähigkeit. Schlimmstenfalls wird die Darmflora schwer geschädigt.
Und schließlich: Langzeitbeobachtungen fehlen noch. Einige bisherige Hardcore-Nutzer haben sich prophylaktisch unter ärztliche Beobachtung gestellt. Keiner hat bislang negative Beobachtung bei seinen Blutwerten gemacht, andere haben sogar profitiert. Die ausschlaggebenden Werte zeigten bei vielen Konsumenten eine Verbesserung gegenüber den Zeiten mit lieblos hinuntergeschlungenen Fastfoodmahlzeiten.
Spontaner Widerstand regt sich bei den meisten Menschen allerdings bei weichen Faktoren: Essen und Nahrungserwerb und -zubereitung gelten als sozialer Kleber und geselliges Ereignis. Mit unglaublicher Inbrunst treten manche Kritiker gegen den Akt kultureller Barbarei auf. Über das gemeinsame Essen habe die Menschheit zusammengefunden, Sprache entwickelt und seine konkurrenzlose Evolutions-Karriere begonnen. Essen sei mehr als Nahrungsaufnahme.
Und die Moral?
Eines kann man Rhinehart keinesfalls absprechen. Er macht keinerlei Versprechen medizinischer Art. Im Gegensatz dazu stehen wirkungslose Produkte wie hoffnungslos überzuckerte und überteuerte Joghurtdrinks oder angereicherte Säfte. Sie sollen unser aller Optimierung dienen und werben mit Selbstverständlichkeiten oder pseudo-wissenschaftlichem Blödsinn. Und werden trotzdem massenhaft gekauft.
Ist Soylent also wirklich schädlicher, als seinen eigenen Speiseplan mit Nahrungsergänzungsmitteln - gern auch in Bärchenform für Kinder - zu bestücken? Wer hat Zeit, jeden Tag frisch einzukaufen und vollwertig zu kochen? Ist die einsame Tiefkühlpizza vorm Fernseher oder Computer ein kulinarisches und soziales Highlight? Und in welchem Verhältnis stehen die gepriesenen Gourmetausflüge zum öden Abendessen aus Brot von gestern und sauren Gurken aus dem Glas? Wie viele Lebensmittel werden über die Lieferkette hin entsorgt, weil ihre Form oder das Timing nicht zum Konsum passen?
Die Soylent-Freiheit
Das Stichwort und Ideal von Soylent ist das richtige Maß: bei der Rezeptur an sich, aber auch insgesamt. Das Essen als Kulturgut muss nicht unter den Tisch fallen. Abgesehen davon, dass bei einigen Veranstaltungen Menschen nur über Flüssigkeiten beisammen sitzen, ist „richtiges Essen“ natürlich nicht verboten. Es geht Rhinehart nicht um Dogmen oder Vorschriften in religiösen Dimensionen. Er sagt ausdrücklich, dass jeder mit Soylent so umgehen soll, wie es ihm beliebt und am besten bekommt.
Manche Fans leben in der Arbeitswoche effizient von Soylent und erheben das Wochenende zur lukullischen Wohlfühlphase. Andere teilen ihre Tagesration in Portionen auf und wollen nach Lust und Laune „ganz normal“ essen. Oder umgekehrt eine reguläre Mahlzeit durch den Shake ersetzen. Das ist die Soylent-Freiheit: Jeder, wie es ihm gefällt.
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