Flüssiges Wasser bei 170 Grad Celsius Schneller heiß, als man „Dampf“ sagen kann
Wasser unter Extrembedingungen – Forscher aus Hamburg Wasser mithilfe von ultrakurzen Laserpulsen so schnell aufgeheizt, dass es sich noch bei über 170 °C wie eine Flüssigkeit verhielt, ehe es verdampfte. Damit demonstrierten sie das Potenzial des Röntgenlasers am Deutschen Elektronen-Synchrotron DESYund gewannen neue Einblicke in die Dynamik von Wassermolekülen bei ultraschnellem Erhitzen.
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Hamburg – Wasser gefriert bei 0 °C und siedet bei 100 °C. Doch das gilt nur unter Standardbedingungen. So fängt etwa auf dem Brocken das Wasser schon bei 96 °C an zu kochen, weil dort der Luftdruck geringerer ist. Umgekehrt erreicht man in einem Schnellkochtopf unter höherem Druck Wassertemperaturen von bis zu 120 °C. Neben dem Druck spielt auch die Zeit eine Rolle beim Wechsel des Aggregatzustandes. So kann es zu einem Siedeverzug kommen, wobei sich das Wasser leicht über 100 °C aufheizt, ehe es auf einen Schlag zu Kochen beginnt.
Eine Art extremen Siedeverzug haben nun Forscher mit dem europäischen Röntgenlaser European XFEL erzeugt. Dabei haben sie untersucht, wie sich Wasser unter Extrembedingungen aufheizt. Der Versuch zeigte, dass selbst bei mehr als 170 °C noch flüssiges Wasser möglich ist. Unter diesen Bedingungen weist Wasser ein anomales dynamisches Verhalten auf. Die Ergebnisse der Studie haben grundlegende Bedeutung für die Planung und Analyse von Untersuchungen empfindlicher Proben per Röntgenlaser.
Extrem überhitztes Wasser dank Laser
„Wir haben uns gefragt, wie lange und wie stark sich Wasser im Röntgenlaser aufheizen lässt und ob es sich dann immer noch wie Wasser verhält“, sagt Hauptautor Felix Lehmkühler von DESY. „Funktioniert es zum Beispiel auch bei hohen Temperaturen noch als Kühlmittel?“ Ein detailliertes Verständnis von überhitztem Wasser ist zudem von essenzieller Bedeutung für eine Vielzahl von Untersuchungen an hitzeempfindlichen Proben, etwa Polymeren oder biologischen Proben.
„Mit den Röntgenblitzen konnten wir das Wasser innerhalb einer zehntausendstel Sekunde auf bis zu 172 °C aufheizen, ohne dass es verdampft ist“, berichtet Lehmkühler. Ein solcher Siedeverzug lässt sich normalerweise nur bis etwa 110 °C beobachten. „Das ist jedoch nicht die einzige Besonderheit“, betont der Physiker. Die Forscher untersuchten die Bewegung von Siliziumdioxid-Nanokügelchen als Marker für die Dynamik im Wasser. „In dem extrem überhitzten Wasser haben wir beobachtet, dass die Bewegung der Siliziumdioxid-Nanokügelchen deutlich von der erwarteten zufälligen Brown‘schen Molekularbewegung abwich. Das deutet auf ein ungleichmäßiges Aufheizen der Probe hin“, sagt Lehmkühler. Existierende theoretische Modelle können dieses Verhalten noch nicht befriedigend erklären, weil sie nicht für Wasser unter diesen extremen Bedingungen ausgelegt sind.
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Lösungsmittelchemie
Wasser-Wraps mit zartschmelzender Hülle
Präzise Temperaturkontrolle
Dank der schnellen Blitzfolge des European XFEL konnten die Forscher den Ablauf sehr genau beobachten. „Mit der hohen Wiederholrate, der Zahl der Blitze pro Sekunde, ist der European XFEL weltweit einzigartig“, sagt Ko-Autor Adrian Mancuso, Leiter der Experimentierstation SPB/SFX am European XFEL, an der die Versuche stattgefunden haben. „Und wir haben alles vor Ort was für diese Experimente benötigt wird – Kameras, Messgeräte und anderes.“ So kann etwa der unter Führung von DESY entwickelte Adaptive Gain Integrating Pixel Detector (AGIPD) rund 350 Serienbilder im Abstand von nur 220 Nanosekunden aufnehmen.
Mit diesem Aufbau ließ sich nicht nur das extrem überhitzte Wasser erzeugen – die Wissenschaftler konnten so auch genau kontrollierte Versuchsreihen mit Röntgenblitzen reduzierter Intensität durchführen. „Mithilfe von Siliziumscheiben als Filter haben wir die Energie der Pulse sehr fein abgestimmt, sodass wir exakt steuern konnten, wie stark das Wasser aufgeheizt wird“, berichtet Hauptautor Lehmkühler. „So konnten wir beispielsweise bestimmen, wie stark die Röntgenblitze sein dürfen, damit die Temperatur einer wässrigen Probe in etwa konstant bleibt.“
Verhalten von Wasser besser verstehen
Dank den neuen Erkenntnissen können Forscher nun Experimente mit hitzeempfindlichen Proben am Röntgenlaser besser planen. Der Heizeffekt lässt sich andererseits auch gezielt einsetzen, wenn man seinen genauen Verlauf kennt. Diese Effekte will das Team weiter untersuchen.
„Unsere Ergebnisse liefern nicht nur die überraschende Beobachtung einer anomalen Dynamik, sondern zeichnen auch ein detailliertes Bild davon, wie sich wässrige Proben im Röntgenlaser erwärmen“, fasst Forschungsleiter Gerhard Grübel von DESY zusammen. „Zudem zeigen die Untersuchungen, dass solche Reihenaufnahmen am European XFEL möglich und die Blitze in jedem Pulszug extrem gleichförmig sind.“
Originalpublikation: Felix Lehmkühler, Francesco Dallari, Avni Jain, Marcin Sikorski, Johannes Möller, Lara Frenzel, Irina Lokteva, Grant Mills, Michael Walther, Harald Sinn, Florian Schulz, Michael Dartsch, Verena Markmann, Richard Bean, Yoonhee Kim, Patrik Vagovic, Anders Madsen, Adrian P. Mancuso, and Gerhard Grübel: Emergence of anomalous dynamics in soft matter probed at the European XFEL, Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS), 2020; DOI: 10.1073/pnas.2003337117
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