Schädliche Physik des Mikroplastiks Schutzschild versagt – Mikroplastik kann Zellmembran schädigen
Jede Zelle im Körper hat ihren eigenen Schild: die Zellmembran. Anders als mittelalterliche Schutzschilde ist die Membran flexibel und fließend, wie ein Flüssigkeitsfilm. Deswegen nahm man bisher an, dass Mikroplastikpartikel ihr keinen mechanischen Schaden zufügen. Doch eine neue Studie von Physikern der Universität des Saarlandes und der spanischen Universität Tarragona zeigt nun das Gefahrenpotenzial von Mikroplastik für die Stabilität menschlicher Zellmembranen.
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Saarbrücken – Kleinste Plastikteilchen von mikrometrischer Größe sind überall präsent, in den Ozeanen, in der Luft, im Schnee des Himalaya; sie wurden sogar schon in der menschlichen Plazenta gesichtet. Wie zwei Physiker nun herausgefunden haben, dehnt Mikroplastik die Membranen menschlicher roter Blutkörperchen und verringert dadurch deren mechanische Stabilität stark.
„Aktuell wird über eine mögliche toxische Wirkung von Mikroplastik auf menschliche Zellen diskutiert“, sagt Dr. Jean-Baptiste Fleury, der als Experimentalphysiker an der Universität des Saarlandes forscht. Mikroplastik ist unmittelbar nach der Aufnahme in lebende Organismen a priori nicht tödlich. Wissenschaftliche Erkenntnisse weisen aber deutlich darauf hin, dass Mikroplastik zu Entzündungen in Zellen führen kann. „Die Möglichkeit einer Entzündung einer Zellmembran durch einen rein physikalischen Effekt wird jedoch von den allermeisten Studien völlig ignoriert“, kritisiert Fleury.
Überdehnte Blutkörperchen
Tatsächlich ist aus physikalischer Sicht eigentlich keine Wirkung von Mikroplastik auf die Zellen zu erwarten. Denn die Zellmembran bietet theoretisch keinen Angriffspunkt für mechanische Kräfte, da sie eher einer Flüssigkeit ähnelt als festem Gewebe. Und jede mechanische Wirkung auf eine Flüssigkeit lässt mit der Zeit nach und sollte daher verschwinden.
„Überraschenderweise haben wir jedoch beobachtet, dass sich die Membranen von künstlichen Zellen und roten Blutkörperchen in Gegenwart von Mikroplastik dehnen“, schildert Fleury. „Anscheinend entzündet sich die Membran der roten Blutkörperchen des Menschen spontan“, erklärt der Experimentalphysiker die massive Wirkung des Mikroplastiks auf die Zellmembranen.
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Aufnahme von Kunststoffpartikeln in Zellen
Mikroplastik im Tarnkleid entert Zellen leichter
Änderung der Zellmembranspannung untersucht
Der theoretische Physiker Dr. Vladimir Baulin von der spanischen Universität Rovira i Virgili hat ein mathematisches Modell entwickelt, wie genau Plastikpartikel auf Zellmembranen wirken. „Vereinfacht gesagt, hat das Modell von Vladimir Baulin vorhergesagt, dass jedes Partikel einen Teil der Membranfläche verbraucht, was dazu führt, dass sich die Membran um ein Partikel zusammenzieht. Dieser Effekt führt dann zwangsläufig zu einer mechanischen Dehnung der Zellmembran“, erklärt Fleury. „Wir konnten überdies experimentell nachweisen, dass das theoretische Modell sogar den Anstieg der Zellmembranspannung quantitativ vorhersagen kann.“
Dazu stellte Jean-Baptiste Fleury mithilfe der Mikrofluidik-Technologie ein Modell einer menschlichen Zellmembran und roten Blutkörperchen her. Dann maß er die Spannung dieser Membranen in Kontakt mit Mikroplastik. Dabei entdeckte die Physiker ein weiteres wichtiges Detail: die Kunststoffpartikel blieben auf der Zellmembran nie an einer Stelle, sondern sie wurden durch kontinuierliche Diffusion bewegt. Fleury und Baulin vermuten, dass diese Diffusion die Ursache für die anhaltende Spannung auf der Zelloberfläche ist und die mechanische Entspannung der Zelle entgegen der ursprünglichen Annahme damit verhindert wird. Dieser experimentelle Nachweis des theoretischen Modells lässt Rückschlüsse auf die Allgemeingültigkeit dieses Mechanismus zu, der auf eine Vielzahl menschlicher Zellen oder Organe übertragen werden kann, schlussfolgern die Wissenschaftler.
Orginalpublikation: Jean-Baptiste Fleury, Vladimir A. Baulin: Microplastics destabilize lipid membranes by mechanical stretching, Proceedings of the National Academy of Sciences Aug 2021, 118 (31); DOI:10.1073/pnas.2104610118
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