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Chemische Analyse von Oberflächen Wenn das Äußerste zählt: Röntgen-Photoelektronen-Spektroskopie

Von Andreas Holländer*

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Man soll ein Buch nicht nach seinem Umschlag beurteilen. In den Materialwissenschaften ist aber gerade die Oberfläche entscheidend für viele Eigenschaften. Für deren Analyse eignet sich die Röntgen-Photoelektronen-Spektroskopie (XPS), die die obersten zehn Nanometer eines Materials erfasst. Wo sich diese spezielle Technik lohnt, zeigen vier Fallbeispiele.

Abb.1: Die Oberfläche eines Materials bestimmt viele Eigenschaften, etwa die Benetzbarkeit mit Flüssigkeit. Mit XPS können Oberflächen chemisch charakterisiert werden.
Abb.1: Die Oberfläche eines Materials bestimmt viele Eigenschaften, etwa die Benetzbarkeit mit Flüssigkeit. Mit XPS können Oberflächen chemisch charakterisiert werden.
(Bild: ©ATKWORK888 - stock.adobe.com)

Eine Reihe von Materialeigenschaften wird von einer Oberflächenschicht bestimmt, die nur wenige Atomlagen dick ist. Die Auswirkungen sind allerdings auch makroskopisch wahrnehmbar: Wie wird das Material benetzt – sei es mit Wasser, Tinte oder einer Druck­farbe? Wie stabil ist eine Klebverbindung? Haften Bakterien oder andere Zellen? All das wird stark von einer Beschichtung, etwa einem Lack, beeinflusst – weitgehend unabhängig vom darunterliegenden Volumen. Die chemische Analyse dieser Oberflächenbereiche ist daher für die Entwicklung zahlreicher Produkte oder für die Fehleranalyse von großem Interesse. Wenn aber nur eine nanometerdicke Schicht von Interesse ist, die auf einem oft mehr als 10.000-mal dickeren Volumenmaterial liegt, stoßen die klassischen spektroskopischen Techniken (z. B. IR, NMR) an ihre Grenzen. Hier kommt XPS zum Einsatz.

Oberflächensensitive Analyse

Die Röntgenphotoelektronenspektroskopie (XPS) ist eine oberflächensensitive Technik, bei der Elektronen im Probenmaterial angeregt werden (s. Ergänzendes zum Thema). Aber nur die emittierten Elektronen von ober­flächennahen Atomen gelangen zum Detektor, sodass XPS hauptsächlich die chemische Beschaffenheit in bis zu zehn Nanometer Tiefe abbildet. Neben der Element­konzentration liefert XPS auch Informationen über Bindungspartner der Elemente. So gelingt es z. B. zu unterscheiden, ob ein Element rein oder als Oxid vorliegt. Oft ist auch die Unterscheidung der Oxidationsstufen möglich. Bei organischen Materialien kann man quantifizieren, wie viele Kohlenstoffatome nur Bindungen zu Kohlenstoff und Wasserstoff haben und wie viele ein, zwei, drei oder vier Bindungen zu Sauerstoff haben. Damit ist eine chemische Analyse möglich, die zwar in ihrer Aussagekraft selten an IR- oder NMR-Spektroskopie heranreicht, dafür aber diese Informationen für extrem geringe Stoffmengen auf Oberflächen zugänglich macht.

Messprinzip XPS

Die Probe wird Röntgenstrahlung ausgesetzt, wobei Photoelektronen frei werden. Aus der kinetischen Energie der emittierten Elektronen und der Anregungsenergie (Photonenenergie der Röntgenstrahlung) lässt sich die Bindungsenergie des Elektrons berechnen, die charakteristisch ist für das Element und das Orbital, aus dem das Elektron freigesetzt wurde. Darüber lassen sich die Konzentrationen der Elemente berechnen, mit Ausnahme von Wasserstoff und Helium, deren Wirkungsquerschnitte zu klein sind für eine Anregung per Röntgenstrahl. Bei der Quantifizierung der Elektronen werden nur solche berücksichtigt, die ohne Kollisionen und dem damit verbundenen Energieverlust die Oberfläche verlassen. Deshalb kommen 95 Prozent der analysierten Elektronen aus den obersten 10 nm der Oberfläche.

Wo der Messaufwand lohnt

XPS-Messungen werden vorwiegend im Ultrahochvakuum durchgeführt. Auch ist der technische Aufwand für die hochpräzise Messung der Elektronenenergien verhältnismäßig hoch. Moderne Geräte erlauben es, die oben beschriebenen Informationen abbildend mit Auflösungen bis in den unteren Mikrometerbereich zu gewinnen. Das alles macht XPS zu einer relativ aufwändigen Analysetechnik, die aber Informationen zugänglich macht, die anders nicht zu gewinnen sind. Der hohe Automatisierungsgrad der Geräte erlaubt außerdem den Einsatz in der Routineanalytik und zur Qualitätskontrolle mit großem Probendurchsatz. Deswegen kann sich der Aufwand bei entsprechender Fragestellung durchaus lohnen, v. a. im Hinblick auf Prozessoptimierung.

Am Fraunhofer-Institut für Angewandte Polymerforschung IAP wird XPS überwiegend für die Analyse der Oberflächen organischer Materialien, insbesondere von Polymeren eingesetzt. Dabei werden grundlegende Arbeiten zur Oberflächenchemie, aber auch technologische Entwicklungen im Bereich der Oberflächentechnologie unterstützt. Darüber hinaus bietet das Institut XPS als Dienstleistung an, beispielsweise zum Troubleshooting – oft in Kombination mit anderen Analysetechniken. Im Folgenden sollen einige Beispiele das Potenzial dieser Analysetechnik verdeutlichen.

Kunststoff-Vorbehandlung

In der Kunststoffindustrie findet Acrylnitril-Butadiene-Styrol-Terpolymer (ABS) vielfältigen Einsatz. Dessen besondere Eigenschaften ergeben sich daraus, dass gummiartige Polybutadienpartikel in einer Matrix aus Poly(Acrylnitril-Styrol) eingebettet sind. Die thermoplastische Verarbeitung führt dazu, dass im Oberflächenbereich etwas weniger der „Gummi-Partikel“ enthalten sind als im Volumen. Solche Kunststoffe werden für manche Anwendungen mit Metallen beschichtet, wobei es auf die Haftfestigkeit zwischen den beiden Werkstoffen ankommt. Bei der Entwicklung von Vorbehandlungstechnologien für eine haftfeste Metallisierung wurde eine ABS-Platte von einer Seite zur anderen mit zunehmender Intensität behandelt, um festzustellen, wie sich die Behandlungsintensität auf die Haftfestigkeit einer Beschichtung aus Nickel und Kupfer auswirkt. Nach dem Abziehen der Metallschicht wurde deren „untere“, ehemals mit dem ABS verbundene Seite mit XPS analysiert. Dabei wurden auf dem Metall noch Reste der ABS-Platte nachgewiesen, die mit bloßem Auge nicht zu erkennen waren. Der Bruch trat also nicht in der Grenzfläche zwischen Kunststoffplatte und Metallbeschichtung auf, sondern im Polymermaterial selbst. Bei genauer Betrachtung wird deutlich, dass der Bruch je nach Behandlungsintensität in unterschiedlicher Tiefe im Material auftritt. An Stellen mit Behandlung geringer Intensität war das Metall im Photoelektronenspektrum sichtbar. Die Polymerschicht ist dort also dünner als die Detektionstiefe der XPS (10 nm, s. Ergänzendes zum Thema). An der Stelle der besten Haftung wurde kein Signal vom Metall festgestellt. Die Schicht ist also mehr als 10 nm dick. Die ABS-Reste auf der abgezogenen Metallschicht lieferten XPS-Signale, wie sie sonst nur im Volumen des Polymermaterials vorkommen (s. Abb. 2). Die behandelte Oberfläche haftet demnach so gut am Metall, dass die Festigkeit des Kunststoffes selbst entscheidend für den Abriss der Metallschicht ist – es ist nicht mehr die Grenzfläche zwischen Metall und Polymer die „schwächste Stelle“, die die Haftfestigkeit der Metallschicht bestimmt.

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Tiefenprofil einer PHT-Schicht

Abb.2: Kohlenstoff C1s-Spektren von der Rückseite eines von einer ABS-Kunststoffplatte abgezogenen Kupferstreifens. Die Platte wurde von einer Seite (0 mm) zur anderen (100 mm) mit zunehmender Intensität vorbehandelt, um die Haftung des Metalls zu verbessern. Zum Vergleich sind die Spektren von ABS an der Oberfläche und im Volumen (siehe Text) sowie mit maximaler Vorbehandlungsintensität dargestellt.
Abb.2: Kohlenstoff C1s-Spektren von der Rückseite eines von einer ABS-Kunststoffplatte abgezogenen Kupferstreifens. Die Platte wurde von einer Seite (0 mm) zur anderen (100 mm) mit zunehmender Intensität vorbehandelt, um die Haftung des Metalls zu verbessern. Zum Vergleich sind die Spektren von ABS an der Oberfläche und im Volumen (siehe Text) sowie mit maximaler Vorbehandlungsintensität dargestellt.
(Bild: Frauenhofer)

Ein weiteres Fallbeispiel ist die Analyse von Polyhexylthiophen (PHT), das als Halbleiter in der organischen Elektronik eingesetzt wird. Dort wird es in Nanometer-dünner Schicht z. B. auf mit Indiumzinnoxid (ITO = indium tin oxide) beschichtetem Glas aufgetragen und ist oft Teil eines komplexen Schichtsystems. Um die chemische Zusammensetzung solcher Schichtsysteme und deren Veränderung in vertikaler Richtung zu analysieren, kombinieren die Fraunhofer Forscher XPS mit einem schrittweisen Abtragen der Schichten durch den Beschuss mit Cluster-Ionen. Dabei handelt es sich um Partikel aus 500 bis 10.000 Argon-Atomen, die insgesamt eine Elementarladung tragen. Durch diese Ladung können die Cluster beschleunigt und der Strahl auf die Oberfläche gerichtet werden. Der Aufprall der Cluster bewirkt ein sanftes Abtragen von Material.

Abb.3: Ausschnitte der Übersichtsspektren einer PHT-Schicht auf ITO im Verlauf des Abtrages mit Argon-Cluster-Ionen. Die hoch aufgelösten Spektren des S2p- und des C1s-Bereichs sind im Hintergrund gezeigt.
Abb.3: Ausschnitte der Übersichtsspektren einer PHT-Schicht auf ITO im Verlauf des Abtrages mit Argon-Cluster-Ionen. Die hoch aufgelösten Spektren des S2p- und des C1s-Bereichs sind im Hintergrund gezeigt.
(Bild: Frauenhofer)

Ein wichtiges Kriterium für die Anwendbarkeit dieser Technik für Untersuchungen von dünnen Polymerschichten besteht darin, dass das Abtragen möglichst ohne Schädigung der zurückbleibenden Schicht erfolgt. In Abbildung 3 ist ein Beispiel gezeigt, wie das gelingt. Eine ca. 20 nm dicke PHT-Schicht auf ITO wird dort schrittweise abgetragen und analysiert. Die Signale von Kohlenstoff und Schwefel werden mit der Zeit schwächer, während die von Indium, Zinn und Sauerstoff größer werden. Bemerkenswert ist, dass die Doublettenstruktur des S2p-Signals weitgehend erhalten bleibt. Die vor Beginn des Abtragens aufgezeichneten Spektren zeigen eine geringfügige Oxidation der PHT-Oberfläche, die sowohl im O1s-Signal, als auch durch die abweichende Struktur des S2p- Signals erkennbar ist.

Tintentropfen untersuchen

Abb.4: Mikroskopbild eines Tropfenfeldes (a) und Abbildungen der Intensitätsverteilung des Indium-In3d-Signals (b, c). Während zwischen den Tropfen zunächst noch eine Tintenschicht zu finden ist (b), wird diese durch Argonionenbeschuss schnell entfernt (c).
Abb.4: Mikroskopbild eines Tropfenfeldes (a) und Abbildungen der Intensitätsverteilung des Indium-In3d-Signals (b, c). Während zwischen den Tropfen zunächst noch eine Tintenschicht zu finden ist (b), wird diese durch Argonionenbeschuss schnell entfernt (c).
(Bild: Fraunhofer IAP)

Für technische Anwendungen von Tintenstrahldruck analysieren die Mitarbeiter am Fraunhofer IAP Drucke, um deren Auflösung zu verbessern. XPS Imaging bietet dabei die Möglichkeit, das Druckbild auch chemisch darzustellen. Abbildung 4 zeigt neben dem Mikroskopiebild eines Tropfenfeldes die Intensitätsverteilung des Indium-In3d-Signals. Dieses charakterisiert die Oberfläche des Indiumzinnoxid-Substrates, auf dem gedruckt wurde. Das Kohlenstoff-C1s-Signal ist dazu komplementär und zeigt das Tropfenfeld als dunkles Quadrat. Die einzelnen Tropfen treten aber zunächst nicht hervor. Erst das Abtragen mittels Argonionen-Beschuss macht sie sichtbar. Die detaillierte Analyse der Zwischenräume zeigte, dass auch dort eine dünne Tintenschicht abgeschieden wurde.

Fehleranalyse Lackierung

Als letztes Beispiel für Einsatzgebiete der XPS sei die Fehleranalyse von Lackierungen genannt. In einem konkreten Fall hatte sich bei einer Lackierung von Metallblechen in Außenanwendung die äußere Lackschicht stellenweise abgelöst. Am Fraunhofer IAP sollte die Ursache für den Fehler identifiziert werden. Dazu nahmen die Mitarbeiter am Objekt Proben, z. B. fehlerhafte und intakte Lackschicht, Untergrund, und analysierten diese mit verschiedenen Techniken. XPS setzten sie u. a. für Material von einer frisch freigelegten Grenzfläche ein, die sie durch Abziehen der Decklackschicht erhielten (s. Insert in Abb. 5).

Abb.5: Übersichtsspektrum der Unterseite einer abgezogenen Decklackschicht zeigt neben den für den Lack typischen Elementen (C, O, N) auch die Elementbestandteile der mineralischen Füllstoffe der darunterliegenden Lackschicht. Der vergrößerte Ausschnitt zeigt einen spektralen Bereich, in dem die Signale von Aluminium und Magnesium mit kleiner Intensität auftreten; Insert: Foto der Probenentnahme.
Abb.5: Übersichtsspektrum der Unterseite einer abgezogenen Decklackschicht zeigt neben den für den Lack typischen Elementen (C, O, N) auch die Elementbestandteile der mineralischen Füllstoffe der darunterliegenden Lackschicht. Der vergrößerte Ausschnitt zeigt einen spektralen Bereich, in dem die Signale von Aluminium und Magnesium mit kleiner Intensität auftreten; Insert: Foto der Probenentnahme.
(Bild: Frauenhofer)

Die Fraunhofer-Forscher stellten bei ihren Analysen fest, dass der Decklack trotz jahrelanger Sonneneinstrahlung chemisch weitgehend intakt war. Auf der Unterseite der Decklackschicht fanden sie jedoch Reste der darunterliegenden Lackschicht, die sowohl das stark degradierte organische Lackmaterial als auch Pigmente enthielt (s. Abb. 5). Diese Daten waren ein wichtiger Schritt zur Erkenntnis, dass der UV-transparente Decklack deshalb abblätterte, weil er die Degradation der darunterliegenden Lackschicht ermöglichte.

Schlussbemerkungen

Die oben dargestellten Beispiele sind eher dem Bereich spezieller Anwendungen und Fragen entnommen. Für die praktische Arbeit bedeutet das, dass die Auswertung und Interpretation der Daten deutlich mehr Zeit in Anspruch nimmt als die Messung. Für Routineanalysen mit wiederkehrenden Fragen lässt sich aber auch die Datenauswertung weitgehend automatisieren und so beschleunigen. Damit wird eine kostengünstige Analyse großer Probenmengen möglich: je nach Probenart und Fragestellung ist die Analyse von einigen Dutzend bis hin zu einigen hundert Proben pro Tag realistisch.

* A. Holländer, Fraunhofer-Institut für Angewandte Polymerforschung IAP, 14476 Potsdam,

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