Funktion des Langzeitgedächtnisses Wie das Gehirn Neues speichert
Das Neue übt stets einen besonderen Reiz auf uns aus. Das zeigt sich auch im Gehirn bei der Bildung des Langzeitgedächtnisses. Wie Sinneseindrücke aus einer neuen Umgebung dort verarbeitet werden und welche Nervenzellen dabei eine entscheidende Rolle spielen, hat nun ein internationales Forscherteam herausgefunden.
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Zürich/Schweiz – Stellen Sie sich vor, Sie gehen in ein Café, in dem Sie noch nie waren. Sie werden sich danach an diese neue Umgebung erinnern, aber wenn Sie das Café immer wieder besuchen, werden sich immer weniger neue Erinnerungen an die Umgebung bilden. Nur die Dinge, die sich verändert haben, werden Ihnen in Erinnerung bleiben. Wie das Langzeitgedächtnis aber im Detail reguliert wird, ist immer noch nicht ganz verstanden.
Ryuichi Shigemoto vom Institute of Science and Technology Austria (IST Austria) hat nun in Zusammenarbeit mit Forschern der dänischen Universität Aarhus und des National Institute for Physiological Sciences in Japan eine zentrale neue Facette in der Bildung von Erinnerungen aufgedeckt. In ihrer Studie untersuchten sie einen Signalweg im Hippocampus im Gehirn und zeigten, wie dieser die Bildung von Erinnerungen über das Erleben neuer Umgebungen steuert.
Zusammenspiel von Moos- und Granule-Zellen
Der Hippocampus ist ein zentraler Bereich im Gehirn, der eine wichtige Rolle bei der Übertragung von Informationen aus dem Kurzzeitgedächtnis in das Langzeitgedächtnis spielt. Unter den vielen ineinandergreifenden Teilen des Hippocampus konzentrierten sich die Forscher auf die Verbindung zwischen den so genannten Moos-Zellen, die Signale von Sinneseindrücken über die Umwelt empfangen, und den so genannten Granule-Zellen, an die diese Informationen weitergeleitet werden. Bei Krankheiten wie Alzheimer ist dieser Teil des Gehirns als einer der ersten betroffen.
Neurone feuern sehen
Die Wissenschaftler verwendeten für diese Studie vier verschiedene Ansätze. Als erstes untersuchten sie die komplexen Strukturen, mit denen Moos-Zellen und die Granule-Zellen verbunden sind, unter dem Mikroskop. Dann maßen sie mithilfe gentechnisch veränderter Neurone on Live-Aufnahmen die Neuronenaktivität im Hippocampus von Mäusen, die sie in eine neue Umgebung setzten. Sie stellten fest, dass die Aktivität der Moos-Zellen, welche die Signale an die Granule-Zellen sendeten, zunächst hoch war und dann immer niedriger wurde. Als die Mäuse nach einigen Tagen in eine andere neue Umgebung gebracht wurden, stieg die Aktivität wieder an, was zeigt, dass diese Neuronen spezifisch für die Verarbeitung neuer Umwelteinflüsse relevant sind.
In einem dritten Ansatz folgten die Forscher den Signal-Spuren in Nervenzellen: Die Aktivität in den untersuchten Neuronen löst die Expression eines bestimmten Gens aus, was bedeutet, dass dort ein bestimmtes Protein produziert wird. Je mehr Aktivität vorhanden war, desto mehr von diesem Protein fanden die Wissenschaftler danach. In den Granule-Zellen entdeckten sie große Mengen des Proteins, die auch mit der Aktivität der Moos-Zellen korrelierten.
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Verhaltensstudien zu neuen Umgebungen
Schließlich nutzten die Wissenschaftler Verhaltensstudien, um die Auswirkungen dieses Pfades im Hippocampus auf die Gedächtnisbildung zu untersuchen. Dies ist besonders wichtig, da der Zusammenhang zwischen Gedächtnisbildung und Verhalten viel über die Funktionen des Gehirns sagen kann.
Die Forscher kombinierten einen kleinen elektrischen Schock als negativen Sinnesreiz mit einer für das Tier neuen Umgebung. Schnell lernten die Mäuse, die neue Umgebung mit unangenehmen Gefühlen zu assoziieren, und sie reagierten darauf, indem sie wie festgefroren stillstanden. Diese negative Reaktion war später auch dann messbar, wenn gar kein Schock vorhanden war.
Ausgeschaltete Moos-Zellen blockieren Langzeitgedächtnis
Nach dieser Konditionierung verabreichten die Forscher den Mäusen Medikamente, um die Aktivität der Moos-Zellen zu hemmen. Als sie dann die negative Konditionierung mit den elektrischen Reizen in der neuen Umgebung durchführten, erinnerten sich die Mäuse danach nicht an den Zusammenhang zwischen der neuen Umgebung und dem unangenehmen Gefühl. Falls sie die Tiere sich zuerst an die neue Umgebung gewöhnt ließen und dann konditionierten, gab es auch keine Aktivierung der Moos-Zellen und somit auch keinen Zusammenhang zwischen der neuen Umgebung und den Schocks im Gedächtnis der Mäuse.
Als die Moos-Zellen hingegen künstlich mit Medikamenten aktiviert wurden, konnten sich diese Assoziation auch dann noch bilden, wenn die Tiere bereits an die neue Umgebung gewöhnt waren. Dies zeigt deutlich, wie die Moos-Zellen im Hippocampus auf neuen Input reagieren und bei Mäusen die Bildung neuer Langzeiterinnerungen auslösen.
Basis zur Behandlung von Hirnerkrankungen schaffen
Ob genau die gleichen Prozesse im menschlichen Gehirn ablaufen, ist noch eine offene Frage, aber diese neuen Erkenntnisse sind ein wichtiger erster Schritt zum Verständnis dieses Teils unseres komplexesten Organs. Shigemoto und Team betreiben Grundlagenforschung, die eines Tages dazu beitragen könnte, degenerative Hirnerkrankungen zu bekämpfen, welche die Gedächtnisbildung beeinträchtigen.
Ryuichi Shigemoto stellt fest: „Dieses Forschungsgebiet ist sehr kompetitiv und es entwickelt sich sehr schnell weiter. Es gibt viele umstrittene Mechanismen der Gedächtnisbildung, aber unsere Ergebnisse bestätigen eine bestehende Hypothese und sind sehr robust, sodass sie ein neues Feld der neurowissenschaftlichen Forschung eröffnen und unser Verständnis des Gehirns fördern können“; führt Studienleiter Shigemoto aus.
Originalpublikation: Felipe Fredes, Maria Alejandra Silva, Peter Koppensteiner, Kenta Kobayashi, Maximilian Joesch, Ryuichi Shigemoto: Broadband Mie-driven random quasi-phase-matching, Current Biology (2020). DOI: 10.1016/j.cub.2020.09.074
(ID:46933540)