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Nachholbedarf bei der Energiewende Wie Deutschland die Energieziele 2050 noch erreichen kann

Autor / Redakteur: Karin Schneider* / Christian Lüttmann

Wie steht es um die Energiewende? Die Abkehr von fossilen Energieträgern ist in Deutschland zwar in vollem Gange, doch der Weg zu einer hundertprozentig nachhaltigen Energieversorgung ist noch weit. Das „Barometer der Energiewende 2019“ der Fraunhofer Institute zeigt, was schon erreicht ist – und was nötig ist, um die bis 2050 gesteckten Ziele zu erreichen.

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Die Energiewende ist im Gange, doch die Ziele 2050 sind noch weit entfernt (Symbolbild).
Die Energiewende ist im Gange, doch die Ziele 2050 sind noch weit entfernt (Symbolbild).
(Bild: gemeinfrei, fietzfotos / Pixabay )

Freiburg im Breisgau – Nachhaltiger leben, unabhängig vom Erdöl werden, dem Klimawandel Einhalt gebieten – mit der Energiewende will Deutschland eine Vorreiterrolle in Sachen Energiepolitik einnehmen. Bis 2050 soll der CO2-Ausstoß um 95% unter das Niveau von 1990 gesenkt werden; der Bruttostromverbrauch soll zu mindestens 80% durch erneuerbare Energien gedeckt sein. Diese Ziele in den kommenden drei Jahrzehnten zu erreichen wird schwierig, da sind sich die meisten Fachleute einig. Zumal nach den ersten Erfolgen nun scheinbar eine zwischenzeitlicher Stillstand erreicht ist.

„Die deutsche Energiewende ist – physikalisch gesprochen – an einer Phasengrenze angekommen. Und so, wie bei einem Phasenübergang der weitere Temperaturanstieg ins Stocken gerät, ist bei der Energiewende die weitere Ersetzung fossiler Energiequellen ins Stocken geraten“, meint Prof. Dr. Clemens Hoffmann, Leiter des Fraunhofer-Instituts für Energiewirtschaft und Energiesystemtechnik IEE in Kassel. In dem jährlichen „Barometer der Energiewende“ blickt Hoffmann, zusammen mit Fachkollegen des Fraunhofer-Instituts für Solare Energiesysteme ISE in Freiburg, des Fraunhofer-Instituts für Innovations- und Systemforschung ISI in Karlsruhe, auf den aktuellen Stand und die mögliche Weiterentwicklung der Energiewende.

Die zukünftige Entwicklung sei zwar weiterhin positiv, reiche jedoch momentan nicht aus, um die gesetzten Ziele bis 2050 zu erreichen, betont Hoffmann: „Die gegenwärtigen Installationsraten für die erneuerbaren Energiequellen werden absehbar nicht mehr den Verlust von Erzeugungsleistung durch die altersbedingt ausscheidenden Wind- und Solaranlagen überschreiten.“ Um den Strombedarf langfristig zu sichern, muss also der Ausbau solcher Anlagen noch stärker vorangetrieben werden.

Wind- und Solarenergie wachsen noch zu langsam

Modellrechnungen der Fraunhofer Institute machen deutlich: Wenn es beim Ausbau von Wind- und Solarkraft lediglich so weitergeht wie bisher, wird es in schon in zehn Jahren bei Weitem nicht genug alternative Energie im deutschen Stromnetz geben. „Um die in Paris vereinbarten Klimaziele einer 95%igen Minderung von Treibhausgasen noch erreichen zu können, müssen wir nach unseren Szenario-Modellierungen die Rate für den Zubau in der Windenergie bis 2030 um etwa das Dreifache steigern“, betont Hoffmann. Die 2018 zusätzlich realisierten 3,82 GW Leistung für Onshore und Offshore-Windanlagen (Brutto-Zubau, also Neu- und Ersatzinstallationen) müssten auf rund 11 GW pro Jahr gesteigert werden. Auch bei der Photovoltaik besteht Nachholbedarf: „2018 lag der Zubau bei 2,3 GW. Hier muss der notwendige Zielzubau bis 2030 auf rund 8,5 GW pro Jahr, also etwa das 3,5-fache, wachsen“, ergänzt Hoffmann.

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Prognosen für Energiemix

Diese Prognosen haben die Fraunhofer Forscher mit dem Simulationsmodell Scope des Fraunhofer IEE berechnet. Scope berücksichtigt die Importe und Exporte in die europäischen Nachbarländer und garantiert, dass die Stromversorgung zu jedem Zeitpunkt und in jedem Land gewährleistet ist.

Rahmenbedingung für die Optimierung ist eine CO2-Reduktion gegenüber 1990 um 95 Prozent bis 2050. Außerdem wurde für den Strom eine ausgeglichene Netto-Importbilanz gewählt, wodurch sichergestellt wird, dass in Summe über ein Jahr der deutsche Strombedarf bilanziell in Deutschland erzeugt wird. Dieser Bedarf beträgt 1000 TWh. Es wird zusätzlich angenommen, dass weitere 1100 TWh an elektrischer Energie an sonnen- und windreichen Standorten außerhalb Deutschlands für die Herstellung flüssiger Treibstoffe regenerativ erzeugt werden. Dem Szenario liegen Wetterdaten aus dem Jahr 2011 zugrunde.

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Kosten drastisch gesunken

Der Fortschritt in den Bereichen Photovoltaik und Windenergie ist nach Meinung der Forscher dennoch vielversprechend, nicht zuletzt, weil die Kosten für diese Technologien mittlerweile deutlich gesunken sind. „Die Gestehungskosten sind mittlerweile konkurrenzfähig“, sagt Prof. Dr. Hans-Martin Henning, Leiter des Fraunhofer ISE in Freiburg und Sprecher der Fraunhofer-Allianz Energie. „Neben der fortlaufenden Technologieentwicklung ist nun der nächste große Schritt, die weiteren Sektoren einzubeziehen: etwa die Wärmeversorgung und den Verkehr mit Erneuerbaren zu bedienen, wofür diese jedoch drastisch ausgebaut werden müssen“, erklärt Henning. Denn während der Stromsektor in der Energiewende stark vorangetrieben wurde, hinken die Bereiche Verkehr und Wärmeerzeugung noch hinterher, wie der Forscher ausführt.

Verknüpfen von Energiesektoren

Ein wichtiges Element für die weitere Energiewende sehen die Experten daher in Wärmepumpen als Bindeglied von Strom- und Wärmesektor. „Gebäude lassen sich damit effizient mit erneuerbarem Strom beheizen, weil sie zusätzlich zur eingesetzten elektrischen Energie bis zu drei weitere Anteile aus der Umweltwärme gewinnen. Zudem lassen sich Wärmepumpen auch zum Kühlen nutzen. Auch aus diesem Grund werden sie künftig eine größere Rolle spielen, wenn unsere Sommer heißer werden“, sagt Henning.

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Eine Herausforderung erneuerbarer Energien ist die konstante, wetterunabhängige Bereitstellung. So muss auch dann Strom verfügbar sein, wenn gerade wenig Wind weht oder die Sonne nicht scheint. Die Speicherung bei Überproduktion ist hier eine Schlüsselstelle. Darunter fällt z.B. die elektrolytische Herstellung von Wasserstoff aus erneuerbarem Strom. „Einerseits können damit große Mengen ansonsten nicht nutzbaren erneuerbaren Stroms einer sinnvollen Nutzung zugeführt werden. Andererseits kann Wasserstoff in verschiedenen Anwendungsfeldern als Endenergie genutzt werden, z.B. im Verkehr“, ist Henning überzeugt. Zudem kann Wasserstoff mit Kohlenstoff aus CO2 weiter konvertiert werden in chemische, synthetische Energieträger und Chemierohstoffe und ist somit vielseitig einsetzbar.

Auch der BP-Energy Outlook befasst sich mit den Chancen und Hürden der Energiewende:

Wirtschaftliche Anreize schaffen

Derzeit noch wichtiger als die technologischen Prozesse, die die Fraunhofer Forscher allesamt auf einem guten Weg sehen, ist die Entwicklung der Randbedingungen für die Energiemärkte. Die meisten Technologien sind an der Schwelle zur Markteinführung und sollten jetzt beim Markteintritt durch entsprechende Instrumente unterstützt werden.

„Das europäische Handelssystem für Treibhausgasemissionsrechte (ETS) ist vom Grundsatz her ein gutes Instrument in diesem Sinne, da es die Mengen für derartige Emissionen hart begrenzt“, findet Prof. Dr. Mario Ragwitz, stellvertretender Institutsleiter des Fraunhofer-ISI. Ihm zufolge braucht es eine Reform der Steuern, Abgaben und Umlagen auf Endenergieträger, um Anreize für Lastverschiebungen, Sektorenkopplung und den Einsatz von Speichern zu geben.

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Viel zu tun für die Ziele der Energiewende

Insgesamt steht Deutschland noch eine große Aufgabe bevor, den Plan bis 2050 zu erfüllen. „Die nächste Phase der Energiewende verlangt die umfassende Einbeziehung der Sektoren Verkehr, Wärme und Industrie in den Transformationsprozess des Energiesystems. Neben einem fortgesetzten Ausbau einer CO2-freien Energieerzeugung bedeutet dies eine umfassende und beschleunigte Sanierung von Gebäuden, die Elektrifizierung der Wärmeerzeugung und der Mobilität sowie die Entwicklung und Umsetzung CO2-emissionsfreier Industrieprozesse. Hier benötigt es ein hohes Ambitionsniveau, den politischen Willen und gesellschaftliche Akzeptanz, um die in Paris gesetzten Klimaziele zu erreichen“ so das gemeinsame Fazit der Fraunhofer Forscher Hoffmann, Henning und Ragwitz.

Interaktive Versionen einiger Grafiken aus der Bildergalerie dieses Artikels finden Sie auf den Seiten von www.herkulesprojekt.de, z.B. die Grafik der Entwicklung der Windenergie in Deutschland.

* K. Schneider, Fraunhofer Institut für Solare Energiesysteme ISE, 79110 Freiburg im Breisgau

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