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Immunbiologie Wie Fresszellen zum Angriff blasen – und wieder stoppen

Von Marcus Rockoff*

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Eine dezente Parfumnote kann anlockend wirken, doch die überladene Geruchskeule aus dem Kaufhaus ist zu viel des Guten. Dieses Prinzip nutzen auch Immunzellen, um ihre Angriffe gegen Erreger zu koordinieren. Erst holen sie mithilfe von Botenstoffen Hilfe, dann sorgt dasselbe Hilfesignal dafür, dass die Immunzellen wieder weiterziehen. Forscher des Max-Planck-Instituts für Immunbiologie und Epigenetik haben dieses komplexe Schwarmverhalten nun entschlüsselt.

Blick in lebendes Gewebe der Maus. Einzelne Neutrophile ziehen weitere Zellen an, um die Bildung eines Neutrophilenschwarms und -clusters zu initiieren. Die Abbildungen zeigen verschiedene Zeitpunkte einer 30-minütigen Zeitsequenz. Neutrophile (mehrfarbig), Neutrophilen-Cluster (rot) und strukturelle Komponenten der Mäusehaut (blau) sind mit verschiedenen Farben dargestellt.
Blick in lebendes Gewebe der Maus. Einzelne Neutrophile ziehen weitere Zellen an, um die Bildung eines Neutrophilenschwarms und -clusters zu initiieren. Die Abbildungen zeigen verschiedene Zeitpunkte einer 30-minütigen Zeitsequenz. Neutrophile (mehrfarbig), Neutrophilen-Cluster (rot) und strukturelle Komponenten der Mäusehaut (blau) sind mit verschiedenen Farben dargestellt.
(Bild: MPI für Immunbiologie und Epigenetik/ T. Lämmermann)

Freiburg im Breisgau – Fresszellen patrouillieren durch unsere Blutgefäße und wandern bei ersten Anzeichen einer Entzündung oder Infektion schlagartig ins Gewebe ein, um dort Krankheitserreger zu finden, aufzunehmen und durch Verdau zu eliminieren. Als einer der ersten Zelltypen vor Ort erreichen neutrophile Granulozyten das verletzte Gewebe. Diese werden auch kurz „Neutrophile“ und beginnen innerhalb weniger Stunden damit, potenzielle mikrobielle Eindringlinge zu zerstören.

Neutrophile machen etwa 50 bis 70 Prozent der weißen Blutkörperchen im menschlichen Körper aus. Man schätzt, dass bei einem Erwachsenen jeden Tag etwa 100 Milliarden Neutrophile aus Stammzellen im Knochenmark gebildet werden. „Diese Zellen patrouillieren in fast alle Ecken unseres Körpers, und sie sind echte Spezialisten darin, alles potenziell Schädliche aufzuspüren“, sagt Tim Lämmermann, Forschungsgruppenleiter am Max-Planck-Institut für Immunbiologie und Epigenetik. „Sobald einzelne Neutrophile geschädigte Zellen oder eindringende Keime im Gewebe entdecken, rufen sie mittels chemischer Signale weitere Zellen zur Hilfe. Dies geschieht über Botenstoffe, die von Rezeptoren an der Zelloberfläche der Neutrophile erkannt werden.“ Durch diese interzelluläre Kommunikation können Neutrophile gemeinsam als Zellkollektiv agieren und im Schwarm die Beseitigung von Krankheitserregern effektiv koordinieren.

Wenn Schutz in Schaden ausartet…

Diese nützliche Entzündungsreaktion kann aber auch überschießen und zu massiven Gewebeschäden führen. Wenn die Intensität oder die Dauer der Immunantwort fehlreguliert ist, können dieselben Mechanismen, welche eindringende Krankheitserreger zerstören, auch Kollateralschäden an gesundem Gewebe verursachen. Dies trägt zu degenerativen Krankheiten wie Krebs, Diabetes und Autoimmunerkrankungen bei.

Was aber stoppt die Neutrophile, wenn diese einmal auf einen Erregerherd aufmerksam geworden sind? Dieser Frage sind Lämmermann und sein Team in einer aktuellen Studie nachgegangen. „Wir haben untersucht, auf welche Weise das Schwarmverhalten zum Erliegen kommt, um eine unkontrollierte Anhäufung von Neutrophilen zu vermeiden und so eine übermäßige Entzündung zu verhindern“, sagt der Forschungsleiter. In früheren Studien haben er und sein Team bereits die molekularen Mechanismen entdeckt, die das kollektive Schwarmverhalten ursprünglich auslösen. Unbekannt blieben jedoch die Prozesse, die diese Reaktion wieder beenden.

Lockstoff mit doppelter Wirkung

Durch den Einsatz spezieller Mikroskope zur Echtzeit-Visualisierung der Immunzelldynamik in lebendem Mausgewebe zeigen die Forscher, dass schwärmende Neutrophile über die Zeit unempfindlich gegenüber ihren eigenen Signalen werden, mit denen sie den Schwarm ursprünglich initiiert haben.

„Wir haben sozusagen die molekulare Bremse gefunden, mit der die Neutrophilen ihre Bewegung stoppen, sobald sie hohe Konzentrationen der sich anhäufenden Schwarmlockstoffe in Neutrophilen-Clustern wahrnehmen“, erläutert Lämmermann. „Das war überraschend, denn die vorherrschende Meinung war eigentlich, dass externe Signale aus der Gewebeumgebung entscheidend sind, um die Neutrophilenaktivität in der Auflösungsphase einer Entzündung zu dämpfen“, ergänzt Wolfgang Kastenmüller von der Max-Planck-Forschungsgruppe Systemimmunologie an der Universität Würzburg.

Internes Start-Stopp-System von Fresszellen

Neutrophile (grün) bilden Zellschwärme und sammeln sich an Gewebestellen, wo sie beschädigte Zellen oder eindringende Mikroben eindämmen müssen. Die mehrfarbigen Bahnen zeigen die Bewegungspfade der Neutrophilen an.
Neutrophile (grün) bilden Zellschwärme und sammeln sich an Gewebestellen, wo sie beschädigte Zellen oder eindringende Mikroben eindämmen müssen. Die mehrfarbigen Bahnen zeigen die Bewegungspfade der Neutrophilen an.
(Bild: MPI für Immunbiologie und Epigenetik/ T. Lämmermann)

Angesichts des entdeckten Start-Stopp-Systems in Neutrophilen überprüften die Forscher auch die gängigen Ansichten zu Bewegungsmustern und Jagdstrategien von Neutrophilen. In Experimenten mit Neutrophilen, denen der Start-Stopp-Mechanismus fehlte, beobachtete das Team, dass diese Zellen viel schneller im Gewebe waren und somit sehr große Gewebebereiche nach Bakterien absuchen konnten. Dieses verstärkte Schwarmverhalten machte diese Zellen jedoch nicht zu besseren Killern. „Überraschenderweise war das Gegenteil der Fall“, sagt Lämmermann. „Neutrophile haben keinen Vorteil davon, sich besonders schnell im Gewebe zu bewegen und ohne Bremse wie verrückt umherzueilen. Stattdessen scheint es wesentlich vorteilhafter zu sein, wenn sie zusammenkommen, stehen bleiben und dann in der Gruppe eine schöne Bakterienmahlzeit genießen – auf diese Weise wird das bakterielle Wachstum viel besser im Gewebe eingedämmt“, erklärt der Immunbiologe.

Die Ergebnisse der Forscher zeigen, dass die Neutrophile mit ihrer Start-Stop-Automatik anscheinend die optimale Balance zwischen Such- und Zerstörungsphasen von Pathogenen gefunden haben. Die Erkenntnisse zu den Jagdstrategien der Immunzellen könnten wichtige Impulse vor allem für neue therapeutische Ansätze liefern. Darüber hinaus könnten die beschriebenen Mechanismen zu Schwarmverhalten auch die Forschung anderer Kategorien von kollektivem Verhalten und Selbstorganisation bei Zellverbänden oder etwa Insekten bereichern.

Originalpublikation: Kienle K, Glaser KM, Eickhoff S, Mihlan, M, Knöpper K, Réategui E, Epple MW, Gunzer M, Baumeister R, Tarrant TK, Germain RN, Irimia D, Kastenmüller, W, Lämmermann T: Neutrophils self-limit swarming to contain bacterial growth in vivo, Science 18 Jun 2021: Vol. 372, Issue 6548; DOI: 10.1126/science.abe7729

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* M. Rockoff, Max-Planck-Institut für Immunbiologie und Epigenetik, 79108 Freiburg im Breisgau

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