Zeitumkehr in der Quantenmechanik Zeit fließt vor und zurück zugleich
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In unserem Alltag kennt Zeit nur einen Weg: vorwärts. Doch in Quantensystemen kann die Zeit vor- und zurücklaufen – und zwar gleichzeitig. Dieses seltsame Phänomen haben Physiker der Uni Wien beschrieben, u. a. mithilfe von Zahnpasta-Tuben.

Wien/Österreich – Wenn wir Himmelsbewegungen betrachten, entsteht oft ein Gefühl der Ewigkeit, das uns zu der Frage verleiten könnte, ob die Zeit wirklich existiert. Blicken wir hingegen auf unser tägliches Leben, werden alle Zweifel ausgeräumt: Die Zeit existiert und bewegt sich vorwärts. Diese scheinbare Gewissheit ergibt sich aus der Tatsache, dass die meisten makroskopischen physikalischen Phänomene immer nur in einer Richtung ablaufen können. Nehmen wir z. B. die Abfolge unserer morgendlichen Routine: Würde man uns einen Film zeigen, in dem unsere Zahnpasta von der Zahnbürste zurück in die Tube wandert, wüssten wir zweifelsfrei, dass wir eine Aufzeichnung unseres Tages im Rücklauf sehen.
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Zwillingsparadoxon
Quantenzwilling auf Einsteins Reise
In der Physik ist diese Neigung bestimmter Phänomene, sich nur in eine Richtung zu entwickeln, mit der Erzeugung von Entropie verbunden, einer physikalischen Größe, die den Grad der Unordnung in einem System definiert. In der Natur neigen Prozesse dazu, sich spontan von Zuständen mit weniger Unordnung zu Zuständen mit mehr Unordnung zu entwickeln, und dank dieser Tendenz lässt sich im Alltag leicht die Richtung des Zeitpfeils identifizieren – intuitiv ohne ein Physikstudium.
Die umkehrbare Zahnpasta
Wenn also ein Phänomen eine große Menge an Entropie erzeugt, ist die Beobachtung seiner zeitlichen Umkehrung so unwahrscheinlich, dass sie praktisch unmöglich ist. Wenn die erzeugte Entropie jedoch klein genug ist, besteht eine nicht zu vernachlässigende Wahrscheinlichkeit, dass die Zeitumkehr eines Phänomens auf natürliche Weise erfolgt.
Denken wir an das Beispiel mit der Zahnpasta zurück: Wenn wir die Tube nur leicht zusammendrücken und nur ein sehr kleiner Teil der Zahnpasta herauskommt, wäre es gar nicht so unwahrscheinlich, dass diese durch die Dekompression der Tube wieder in ihr Behältnis zurück gesaugt wird. Wird die Tube hingegen stärker zusammengedrückt, breitet sich die Zahnpasta unumkehrbar aus, sodass man sich sehr viel mehr anstrengen muss, um die gesamte Zahnpasta wieder in die Tube zu bekommen.
Das Prinzip der Quantensuperposition – Schrödingers Katze
Ein Team von Physikern der Universität Wien und des Instituts für Quantenoptik und Quanteninformation der Österreichischen Akademie der Wissenschaften hat diese Zahnpastatuben-Idee auf den Quantenbereich angewandt. Die Forscher versuchten, ein tieferes Verständnis dafür zu erlangen, wie Zeit in diesem Regime fließt. Eine der Besonderheiten der Quantenwelt ist das Prinzip der Quantensuperposition, das vereinfacht folgendes besagt: wenn zwei Zustände eines Quantensystems möglich sind, kann dieses System auch in beiden Zuständen zugleich sein.
Bekannt ist diese Annahme durch „Schrödingers Katze“, ein Gedankenexperiment von Physiker Erwin Schrödinger. Darin ist eine Katze in einer Box verborgen, zusammen mit einer Tötungsmaschine, die mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit aktiviert wird. Solange die Box zu ist und niemand hineinsehen kann, ist die Katze in zwei Zuständen gleichzeitig: tot und lebendig. Erst in dem Moment, wo jemand die Box öffnet und nachsieht, wird die Superposition aufgehoben und das Ergebnis zeigt sich (tot oder lebendig).
Neues Zeitverständnis
Doch zurück zu dem System, das sich in die eine oder andere zeitliche Richtung entwickelt (die Zahnpasta, die aus der Tube kommt oder wieder in die Tube zurückwandert). Hier folgt aus dem Superpositionsprinzip, dass sich Quantensysteme auch zugleich in beide zeitliche Richtungen entwickeln können. Obwohl dieser Gedanke in Bezug auf unsere alltägliche Erfahrung unsinnig erscheint, beruhen die Gesetze des Universums auf ihrer grundlegendsten Ebene auf quantenmechanischen Prinzipien.
Dies wirft die Frage auf, warum wir in der Natur nie auf solche Überlagerungen von Zeitflüssen stoßen. „In unserer Arbeit haben wir die Entropie quantifiziert, die von einem System erzeugt wird, das sich in Quantensuperposition von Prozessen mit entgegengesetzten Zeitpfeilen entwickelt. Wir fanden heraus, dass dies meist dazu führt, dass das System auf eine genau definierte Zeitrichtung projiziert wird, die dem wahrscheinlichsten Prozess der beiden Prozesse entspricht“, sagt Gonzalo Manzano, ein Mitautor der Studie. Und doch kann man, wenn Entropie nur in geringem Ausmaß im Spiel ist (z. B. wenn so wenig Zahnpasta aus der Tube gedrückt wird, dass man sehen kann, wie sie wieder in die Tube zurückgesaugt wird), physikalisch beobachten, welche Folgen es hat, wenn sich das System gleichzeitig in der Vorwärts- und in der Rückwärtsrichtung der Zeit entwickelt. Wie Giulia Rubino, Hauptautorin der Veröffentlichung, betont, „wird die Zeit zwar oft als kontinuierlich zunehmender Parameter behandelt, doch unsere Studie zeigt, dass die Gesetze, die den Zeitfluss in quantenmechanischen Zusammenhängen regeln, viel komplexer sind. Dies könnte darauf hindeuten, dass wir die Art und Weise, wie wir diese Größe dort darstellen, wo Quantengesetze eine entscheidende Rolle spielen, überdenken müssen.“
Originalpublikation: G. Rubino, G. Manzano and C. Brukner: Quantum superposition of thermodynamic evolutions with opposing time’s arrows, Communications Physics volume 4, Article number: 251 (2021); DOI: 10.1038/s42005-021-00759-1
* A. Frey, Universität Wien, 1010 Wien/Österreich
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