Langzeitstudie in arktischer Tiefsee Zimmer frei am Meeresgrund
Neue Einblicke in den Lebensraum Arktische Tiefsee haben Forscher des Alfred-Wegener-Instituts, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) erhalten. Ihre Studie verdeutlicht, wie empfindlich diese Ökosysteme gegenüber Störungen sind. Denn eine artenreiche Besiedelung braucht dort vor allem eines: viel Zeit.
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Bremerhaven – Einige Schwammarten stehen wie antike römische Vasen auf den Steinen, Haarsterne und Seelilien wiegen ihre Tentakel elegant in der Strömung. Wenn ferngesteuerte Unterwasserfahrzeuge am Meeresgrund der arktischen Tiefsee unterwegs sind, fangen ihre Kameras immer wieder Bilder von solchen sesshaften Tieren ein.
Zu den wichtigsten Lebensräumen für diese Organismen gehören die so genannten Dropstones. Das sind Steine und ganze Felsblöcke, die an Land in einen Gletscher eingefroren und von Eisbergen ins Meer hinaus transportiert worden sind. Sobald das Eis schmilzt, sinken diese Steine auf den Meeresgrund und bieten dort genau das harte Substrat, auf das viele dieser Arten angewiesen sind.
Doch wie lange dauert es, bis die ersten Siedler in der Tiefsee der Arktis dieses Angebot nutzen? Und wie entwickelt sich die Lebensgemeinschaft dann weiter? „Darüber wusste man bisher so gut wie gar nichts“, sagt Michael Klages vom Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI). Zwar gibt es einige Studien, die solche Fragen in der Antarktis untersucht haben. Allerdings haben sich diese auf flache Meeresbereiche konzentriert, in denen andere Lebensbedingungen herrschen.
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Nun aber gibt es neue Erkenntnisse aus dem Tiefsee-Observatorium „Hausgarten“, das in einer Wasserstraße zwischen Spitzbergen und Grönland liegt. Im Juli 1999 haben Klages und seine Kollegen aus der Tiefseeforschungsgruppe des AWI dort in einer Tiefe von 2500 Metern einen schweren Metallrahmen auf den Meeresboden gestellt. Daran hingen Besiedlungsplatten aus Klinkersteinen, Plexiglas und Holz, die den sesshaften Tiefseebewohnern Halt bieten sollten. Und dann hieß es warten, was passiert.
In den Jahren 2003 und 2011 hat das Team dieser Konstruktion Besuche mit ferngesteuerten Unterwasserfahrzeugen abgestattet, Ende August 2017 wurde das Gestell schließlich wieder an die Oberfläche geholt. Die Erstautorin der aktuellen wissenschaftlichen Veröffentlichung, Kirstin Meyer-Kaiser, hat die geborgenen Besiedlungsplatten anschließend genau untersucht. Dafür zählte die Forscherin, die mittlerweile im Meeresforschungsinstitut Woods Hole Oceanographic Institution im US-Bundesstaat Massachusetts arbeitet, die einzelnen Organismen und ordnete sie taxonomisch ein.
Besiedelung in Zeitlupe
Nach vier Jahren hatten sich auf den Platten nur Einzeller aus der Gruppe der Foraminiferen eingefunden, nach zwölf Jahren war mit dem Polypen Halisiphonia arctica nur ein einziges mehrzelliges Tier dazugekommen. „In diesem Experiment haben wir gesehen, dass die Besiedlung solcher Habitate in der arktischen Tiefsee extrem langsam vor sich geht“, resümiert Klages. Selbst nach 18 Jahren beschränkte sich die Zahl der wirbellosen Mehrzeller auf gerade einmal 13 Arten.
Aus dieser bescheidenen Ausbeute schließen die Forscher allerdings nicht, dass die natürlichen Hartsubstrate keine wichtigen Habitate wären – ganz im Gegenteil: „Ohne sie würde es etliche sesshafte Tiere in der arktischen Tiefsee gar nicht geben“, betont Klages.
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Der in den Meeren inzwischen allgegenwärtige Zivilisationsmüll scheint dabei kein guter Ersatz zu sein. Zwar hat das AWI-Team auf den von ferngesteuerten Unterwasserfahrzeugen aufgenommenen Bildern durchaus schon eine Plastikflasche gesehen, auf der eine Seelilie wuchs. „So sind wir darauf gekommen, bei unserem Experiment auch Plexiglasplatten zu verwenden“, erklärt der Forscher. „Wir wollten sehen, ob diese genauso gut besiedelt werden können wie ein naturnaher Untergrund.“ Das ist aber offenbar nicht der Fall. Jedenfalls hatten sich nach 18 Jahren auf dem Kunststoff deutlich weniger Tiere eingefunden als auf den Klinkersteinen.
Störungsempfindliche Ökosysteme
Auch die Klinkersteine konnten allerdings bei weitem nicht mit einem benachbarten Felsenriff mithalten, wo sich immerhin 65 verschiedene Wirbellose nachweisen ließen. Möglicherweise haben also selbst fast zwei Jahrzehnte nicht genügt, um auf den Platten die theoretisch mögliche Artenvielfalt zu erreichen. Das erwähnte Riff ist dagegen deutlich älter und hatte entsprechend mehr Zeit, um eine größere Palette von Bewohnern anzulocken.
Die Ergebnisse liefern damit auch wichtige Erkenntnisse über die Empfindlichkeit von Tiefsee-Ökosystemen. „Wenn dort Störungen die sesshaften Bewohner am Meeresgrund beseitigen, dürfte es Jahrzehnte dauern, bis sich die Lebensgemeinschaft davon wieder erholt hat“, schätzt Klages. In der Arktis können solche Störungen etwa durch Fischerei, Bohrungen nach Öl und Gas auftreten. Deutlich weitreichendere Folgen aber sind den Wissenschaftlern zufolge zum Beispiel in der Tiefe des Pazifiks zu erwarten, wo künftig großflächig Manganknollen abgebaut werden sollen.
Originalpublikation: Kirstin Meyer, Melanie Bergmann, Thomas Soltwedel, Michael Klages: Recruitment of Arctic deep-sea invertebrates: results from a long-term hard-substrate colonization experiment at the LTER observatory HAUSGARTEN. Limnology and Oceanography (2019); DOI: 10.1002/lno.11160
* Dr. F. Mehrtens, Alfred-Wegener-Institut Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung, 27570 Bremerhaven
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