English China

VCI-Prognos-Studie: Chemie 2030 Zukunftsszenarien für die Deutsche Chemieindustrie – Chemie 2030

Redakteur: Wolfgang Ernhofer

Der VCI hat auf der Mitgliederversammlung im Essener Welterbe Zeche Zollverein eine neue Studie zur Zukunft der Chemieindustrie vorgestellt. Die Studie "Chemie 2030" wurde im Auftrag des VCI mit dem Wirtschaftsforschungsinstitut Prognos erarbeitet und prognostiziert verschiedene Szenarien für die chemische Industrie Deutschlands. Dabei spielen die Verschiebung wirtschaftlicher Wachstumszentren Richtung China und die Reindustrialisierung der USA durch den Shale Gas-Boom eine wichtige Rolle.

Anbieter zum Thema

(Bild: VCI)

Essen – Auch im Jahr 2030 kann die Chemieindustrie in Deutschland laut VCI eine entscheidende Rolle spielen. Allerdings müssen die gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen stimmen, um den Standort und die Produktion nicht zu gefährden.

Eine Steigerung der Chemieproduktion am Standort Deutschland um 40 Prozent bis 2030 scheint so möglich. Zu diesem Ergebnis kommt das Wirtschaftsforschungsinstitut Prognos, das im Auftrag des Verbandes der Chemischen Industrie in einer umfassenden Studie Entwicklungspfade der Branche analysiert und sich dabei auf das spezifische Wissen von Experten aus Mitgliedsunternehmen und Fachverbänden des VCI sowie aus Kundenindustrien der Chemie gestützt hat. Moderiert wurde die Veranstaltung von Ulrich Meyer, bekannt aus der Sat1-Sendung Akte 2012.

Chemie 2030: Vernetzte Wertschöpfungsketten als Garant für den Erfolg

„Wenn die Politik in Berlin die richtigen Entscheidungen fällt, wird die deutsche Chemie in den kommenden Jahrzehnten weiter wachsen, wirtschaftlich erfolgreich sein und in vielfältiger Hinsicht dazu beitragen, Lebensqualität und Wohlstand unserer Gesellschaft zu mehren“, sagte der scheidende VCI-Präsident Dr. Klaus Engel bei der Vorstellung der Studie in Essen. Der Produktionsverbund innerhalb der Branche und der starke industrielle Kern der deutschen Volkswirtschaft mit seinen vernetzten Wertschöpfungsketten, in denen die Chemie überall eine wichtige Rolle spielt, seien dabei Garant für ein solides Wachstum.

Der Studie zufolge kann die Branche von der steigenden weltweiten Nachfrage nach Chemikalien – besonders aus Asien und Lateinamerika – auch in Zukunft profitieren. Die Verschiebung der wirtschaftlichen Wachstumszentren weg von Europa hin nach Asien mit China als Gravitationszentrum führt aber auch zu stärkerem Wettbewerbsdruck für die Chemie am Standort Deutschland. Engel betonte bei der Vorstellung der Studie die vier zentralen Elemente für eine positive Zukunft der Chemieindustrie.

Weitere Informationen und Grafiken zur Studie Chemie 2030 finden Sie in der Bildergalerie des Artikels.

Die Kurzfassung der Studie Chemie 2030

Vierteilige Strategie als Reaktion auf intensiveren globalen Wettbewerb

1. Innovationsanstrengungen erhöhen: Bis 2030 wird die Branche ihr jährliches Forschungsbudget um weitere neun Milliarden auf dann fast 18 Milliarden Euro aufstocken. Das entspricht einem Zuwachs pro Jahr von vier Prozent. „Die chemisch-pharmazeutische Industrie zählt schon heute zu den besonders innovationsstarken Zweigen der deutschen Wirtschaft. „Der globale Wettbewerb um neue Produkte erfordert aber ein noch höheres Innovationstempo“, erklärte der VCI-Präsident.

2. Auf Spezialchemikalien fokussieren: Forschungsintensive und höherwertige Spezialchemikalien für Farben, Pflanzenschutzmittel, Spezialkunststoffe und Konsumprodukte werden weitere Produktionsanteile hinzugewinnen. Schon heute nimmt dieses Segment mit 43 Prozent den größten Anteil in den verschiedenen Sparten der deutschen Chemie ein. Ihr Wissensvorsprung auf diesem Gebiet macht auch in Zukunft den Unterschied im Wettbewerb gegenüber anderen Chemienationen aus.

3. Noch effizienter produzieren: Seit 1990 ist der Energieeinsatz in der deutschen Chemie um ein Fünftel gesunken, obwohl die Produktion um fast 60 Prozent gestiegen ist. Globaler Wettbewerb und steigende Energie- und Rohstoffkosten sorgen jedoch dafür, so die Berechnungen von Prognos, dass die Unternehmen die Messlatte für Ressourceneffizienz noch höher hängen: Obwohl die Produktion bis 2030 um 40 Prozent zulegt, soll der absolute Rohstoffverbrauch nur um 15 Prozent, der Energieverbrauch sogar nur um acht Prozent ansteigen. Eine vollständige Entkopplung von Wachstum und Primärenergieeinsatz sei aber nicht länger machbar, stellte Engel klar: „Das Ziel der EU, den Energieverbrauch absolut zu begrenzen, ist in der chemischen Industrie nicht mit künftigem Wachstum vereinbar.“ Deshalb müsse in Brüssel bei der Diskussion über die Ziele zur Energieeffizienz der Wirtschaft wieder Realismus statt Wunschdenken die Oberhand gewinnen.

4. Rohstoffbasis optimieren: Bis 2030 werden die Chemieunternehmen in Deutschland 50 Prozent mehr nachwachsende Rohstoffe als heute für ihre Verfahren verwenden. Der qualitative Wandel der Rohstoffbasis, der die Abhängigkeit der Branche von endlichen fossilen Ressourcen verringert, hält an. Heute setzt die Branche pro Jahr rund 2,7 Millionen Tonnen pflanzliche Rohstoffe überwiegend für die Herstellung von Produkten aus der Spezialchemie ein.

Weitere Informationen und Grafiken zur Studie Chemie 2030 finden Sie in der Bildergalerie des Artikels.

Die Politik soll es richten

Ein in verschiedener Hinsicht unberechenbarer Faktor sind die politischen Rahmenbedingungen. Sie können die Situation verändern – im Positiven wie im Negativen. Das zeigt die Studie in zwei alternativen Entwicklungspfaden: Im Szenario „zerrissene Wertschöpfungsketten“ wird eine restriktive Industriepolitik zu Grunde gelegt, die vor allem in Bezug auf die Energieversorgung zu massiven wirtschaftlichen Einschnitten für die gesamte Industrie führen würde.

Für dieses Szenario der Deindustrialisierung in Deutschland hat Prognos einen volkswirtschaftlichen Gesamtschaden von 440 Milliarden Euro errechnet. „Wenn die drei Eckpfeiler der Energiepolitik 'sicher, sauber und bezahlbar' nicht mehr gewährleistet sind, entstehen tiefe Risse in unserem Wirtschaftssystem. Reißen die etablierten Wertschöpfungsketten in Deutschland, würde der industrielle Kern schwer geschädigt. Die mangelnde Versorgung der Kundenbranchen mit energieintensiven Vorleistungen aus der Chemie würde letztlich zu einer Abwanderung wichtiger Industriezweige führen“, erklärte Engel.

Innovationsfreundliches Umfeld

Dagegen zeigt das Szenario „innovationsfreundliches Umfeld“, dass die Politik mit den richtigen Maßnahmen zusätzliche Wachstumskräfte mobilisieren und so einen beträchtlichen positiven Schub für die deutsche Volkswirtschaft bis 2030 auslösen könnte: Er lässt sich nach den Berechnungen von Prognos auf rund 190 Milliarden Euro beziffern.

Aus Sicht der Branche lassen sich aus der Studie folgende Punkte für die Politik ableiten: Es muss der demografisch bedingten Verknappung von Arbeitskräften entgegengewirkt und das Bildungssystem verbessert werden. Darüber hinaus gilt es, die Einwanderungsmöglichkeiten für Fachkräfte zu verbessern. Durch staatliche Forschungsförderung, eine bessere Qualifizierung der Arbeitnehmer und eine höhere Technologieakzeptanz in der Gesellschaft lässt sich das Innovationspotenzial Deutschlands verbessern.

Politisch festgelegte Forschungsfelder sowie die Förderung einzelner Industriezweige zulasten anderer dämpften hingegen das Wachstumspotenzial. Sinnvoller sei es, das Industrieland Deutschland insgesamt zu stärken. Die Energiewende müsse kosteneffizient vorangetrieben werden. Solange es in Deutschland keine international wettbewerbsfähigen Energiepreise gebe, müssten die Entlastungsregelungen für die energieintensive Produktion erhalten bleiben, so der VCI.

Weitere Informationen und Grafiken zur Studie Chemie 2030 finden Sie in der Bildergalerie des Artikels.

Prominent besetzte Diskussionsrunde

Abschluss der Mitgliederversammlung des VCI in Essen war eine prominent besetzte Diskussionsrunde zur vorgestellten Chemie 2030-Studie. Neben dem Evonik-Chef Engel diskutierten NRW-Wirtschaftsminister Gerald Duin, Prof. Dr. Ferdi Schüth vom Max-Planck-Institut für Kohlenforschung und Cem Özdemir, Bundesvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen, mit Ulrich Meyer.

In einem Punkt waren sich die beiden Politiker Duin und Özdemir mit den anderen Gesprächspartnern einig: Die Zuwanderung von Fachkräften muss in Hinblick auf die demografische Entwicklung und den befürchteten Fachkräftemangel erleichtert und attraktiver gestaltet werden. Zusätzlich müsse die Wirtschaft das bestehende Arbeitskräftepotenzial besser ausschöpfen, so Özdemir. Hinsichtlich der Bildung plädierte Duin dafür, dass "kein Kind zurückgelassen werden darf", weil sich die deutsche Wirtschaft ein Versagen der Bildungspolitik und fehlendes, gut ausgebildetes Personal nicht leisten könne.

Schüth forderte die Weiterentwicklung sowie Einbindung von Startups in Wertschöpfungsketten. Auch an der Forschungsförderung dürfe nicht gespart werden, meinte Özdemir mit Blick auf die Studienergebnisse und fügte seine Vorstellung hinzu, dass Made in Germany auch künftig für Ressourceneffizienz und Qualität stehen soll. Viel Applaus erntete Duin, der zum Thema Forschung und Entwicklung eine innovationsfreundliche, von Aktzeptanz geprägte und offene Gesellschaft forderte.

"Zick-Zack-Kurs der Politik ist Gift"

Die Kosten der Energiewende müssten zwischen Verbrauchern und Industrie sinnvoll aufgeteilt werden forderte Engel. Gleichzeitig lobte der Manager die Zusammenarbeit und Entwicklung von neuen Produkten mit den Kunden. Er erwarte eine Renaissance der Industrie in den USA, die u.a. durch den Shale Gas-Boom eine Reindustrialisierung erleben werde. Auch im Hinblick auf Investitionsentscheidungen könnten die Shale Gas-Vorkommen in den USA eine wichtige Rolle spielen.

Bei der Nutzung von Ressourcen sprach sich Schüth für die Verwendung biobasierter Rohstoffe statt deren Verbrennung zur Energieerzeugung aus und forderte konstante Forschung um eigens entwickelte Produkte nicht ans Ausland zu verlieren, wie es bei der Lithium-Ionen-Batterie mit Sony geschehen sei. Als Beispiel brachte der Wissenschaftler die Graphen-Forschung, deren Ergebnisse in naher Zukunft Indiumzinnoxid als Material für Displays ablösen könnten, sofern die Entwicklung konsequent weiterverfolgt werde.

Einer Aussage von Özdemir konnten alle Anwesenden zustimmen: Wenn Deutschland ein erfolgreicher Industriestandort bleiben will, müssen die Rahmenbedingungen stimmen, ein "Zick-Zack-Kurs der Politik ist Gift" für die Industrie und das Land.

Weitere Informationen und Grafiken zur Studie Chemie 2030 finden Sie in der Bildergalerie des Artikels.

(ID:35994310)