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Sind Hirnorganoide vertretbar? Gehirne im Miniformat: Forschungsgemeinschaft nimmt Stellung

Quelle: Pressemitteilung Leopoldina

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Hirnorganoide sind im Labor gezüchtete Gewebestrukturen, die die Teile der Hirnfunktion imitieren. An ihnen können Forscher z. B. Medikamente testen oder grundlegende Hirnfunktionen untersuchen. Inwieweit ethische und juristische Bedenken bei dieser Forschung zu berücksichtigen sind, kommentiert eine Forschungsgruppe der Leopoldina.

Querschnitt eines vollständigen cerebralen Organoids mit verschiedenen Gehirnregionen. Zellen sind in blau, neuronale Stammzellen in rot und Neuronen in grün dargestellt.
Querschnitt eines vollständigen cerebralen Organoids mit verschiedenen Gehirnregionen. Zellen sind in blau, neuronale Stammzellen in rot und Neuronen in grün dargestellt.
(Bild: Querschnitt Gehirnmodell /IMBA/ Lancaster / CC BY-SA 4.0)

Organoide sind aus Stammzellen gewonnene Gewebestrukturen, die in vitro, also außerhalb des menschlichen Körpers, dreidimensional wachsen und die zelluläre Architektur sowie bestimmte Funktionen eines Organs in Teilen nachahmen. Hirnorganoide bestehen, so wie das menschliche Gehirn, aus Nervenzellen und Gliazellen, die Stütz- und Versorgungsgewebe bilden. Es sind stark vereinfachte Mini-Gehirne, die aber ausreichend ähnlich zu einem natürlichen Gehirn sind, um an ihnen bestimmte Forschungsfragen zu klären.

„Hirnorganoide erlauben neue Einblicke in die frühe Gehirnentwicklung und in die Entstehung neurologischer und psychiatrischer Erkrankungen. Sie ermöglichen zudem die Untersuchung der Effekte von Medikamenten, Giftstoffen, Keimen oder Viren auf menschliche Gehirnzellen und auf die Gehirnentwicklung“, sagt Hans Schöler, Direktor der Abteilung Zell- und Entwicklungsbiologie am Max-Planck-Institut für molekulare Biomedizin Münster, Leopoldina-Mitglied. In der Stellungnahme „Hirnorganoide ‒ Modellsysteme des menschlichen Gehirns“ der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina beschreiben er und weitere Wissenschaftler die Möglichkeiten dieses Forschungsgebietes und erörtern, ob es aus ethischen oder juristischen Gründen stärker reguliert werden sollte.

In der Stellungnahme beschreiben die Experten, wie die Forschung an und mit Hirnorganoiden ein tieferes Verständnis einzelner Prozesse des menschlichen Gehirns ermöglichen kann. Zudem sollen an Hirnorganoiden anwendungsorientierte Fragen bearbeitet werden, beispielsweise zur Entstehung früher Entwicklungsstörungen, die zu neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen führen können, zum Wirkmechanismus viraler Infektionen oder zur Aufklärung neurodegenerativer Prozesse, erklären die beteiligten Wissenschaftler.

Hirnorganoide und Embryonen – wie Äpfel und Birnen?

Die Forschung an Hirnorganoiden wirft zugleich eine Reihe ethischer und juristischer Fragen auf. So ist zum Beispiel zu klären, ob menschlichen Hirnorganoiden gegenüber eine Schutzpflicht entstehen könnte. Die hierzu vertretenen Positionen sehen solche Schutzansprüche zumeist erst dann gegeben, wenn Hirnorganoide Bewusstsein beziehungsweise Empfindungsfähigkeit besäßen – eine gegenwärtig aus Sicht der Arbeitsgruppe nicht erfüllte Voraussetzung. Denn bisher erreichen Hirnorganoide nicht die Dichte und Komplexität menschlicher Gehirne. Des Weiteren fehlen den Gewebestrukturen „Sinneseindrücke“, so ist beispielsweise das Empfinden von Schmerz ein komplexer Vorgang, der eine Reihe unterschiedlicher Hirnareale involviert.

Die Frage, ob weit entwickelten Hirnorganoiden ein vergleichbarer Schutz wie Embryonen zuzusprechen ist, verneint die Stellungnahme. Hirnorganoide können sich anders als Embryonen nicht zu einem vollständigen Organismus oder gar Menschen entwickeln, deswegen ist ein gleichartiger Schutz, wie im Embryonenschutzgesetz vorgesehen, weder aus dem geltenden Recht ableitbar noch verfassungsrechtlich geboten.

Fazit der Forschergruppe

Die Autoren kommen zu der Schlussfolgerung, dass die Forschung an und mit Hirnorganoiden in vitro auf absehbare Zeit keine regulierungsbedürftigen ethischen und rechtlichen Fragen aufwirft. Die aktuellen Grenzen des Entwicklungspotenzials von Hirnorganoiden könnten aufgrund der Dynamik des Forschungsfeldes in Zukunft jedoch überwunden werden. In diesem Fall sollten die etablierten Verfahren der wissenschaftsinternen Selbstregulierung genutzt werden, um auch in diesem Forschungsfeld ethisch, rechtlich oder gesellschaftlich relevante Entwicklungen frühzeitig einschätzen und auf sie reagieren zu können, empfehlen die Wissenschaftler.

Die Stellungnahme wurde von der interdisziplinär besetzten Arbeitsgruppe „Hirnorganoide — Chancen und Grenzen“ erarbeitet. Beteiligt waren Wissenschaftler aus den Fächern Medizin, Neurowissenschaften, Rechtswissenschaften, Medizinethik, Philosophie und Informationswissenschaften.

Stellungnahme: Hirnorganoide – Modellsysteme des menschlichen Gehirns (2022), Herausgegeben von der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina

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