Schmerzschwelle von Neandertaler und modernem Mensch Das sensible Erbe der Neandertaler
Anbieter zum Thema
In vielen von uns steckt noch ein bisschen Neandertaler. Das lässt sich nicht nur im Genom nachweisen, sondern auch regelrecht spüren. Zumindest zeigt eine Studie von Paläogenetiker Svante Pääbo und Kollegen, dass Menschen, die einen bestimmten Ionenkanal von Neandertalern geerbt haben, mehr Schmerzen empfinden.

Leipzig, Solna/Schweden – Neandertaler lebten 400.000 bis 40.000 Jahre vor unserer Zeit auf der Erde. Dann verschwanden sie für immer, während sich der Homo Sapiens zu dem modernen Menschen weiterentwickelte. Doch Spuren der Neandertaler sind bis heute erhalten, und das nicht nur in Ausgrabungsstätten und an Höhlenwänden. Tatsächlich zeigen Analysen, dass bei Menschen mit Wurzeln außerhalb Afrikas ein bis drei Prozent der Gene vom Neandertaler abstammen. Vermutlich ist dies auf eine Vermischung zwischen unseren direkten Vorfahren und Neandertalern vor 47.000 bis 65.000 Jahren zurückzuführen.
Evolution des Gehirns
Der Neandertaler in unserem Kopf
Genetische Veränderungen und deren Folgen
Mittlerweile ist eine beträchtliche Zahl von Neandertaler Genomen untersucht worden, sodass die Forscher nun erstmals genetische Veränderungen identifizieren können, die bei vielen oder allen Neandertalern vorhanden waren. Wenn diese Veränderungen bei heute lebenden Menschen vorkommen, können deren physiologische Auswirkungen im Vergleich zu Menschen ohne diese Genvariante untersucht werden.
Ein Gen, das solche Veränderungen aufweist, haben Hugo Zeberg, Svante Pääbo vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig gemeinsam mit Kollegen des Karolinska Institutets in Schweden genauer analysiert. Dabei kam heraus, dass Neandertaler manchen von uns eine besondere Schmerzempfindlichkeit vererbt haben: Insbesondere Menschen aus Mittel- und Südamerika, aber auch in Europa, haben eine Neandertaler-Variante eines Gens geerbt, das für einen Ionenkanal kodiert, der die Schmerzempfindung auslöst.
Neandertaler-Gen macht acht Jahre schmerzempfindlicher
Anhand von Daten aus einer umfangreichen Bevölkerungsstudie in Großbritannien zeigen die Autoren, dass Menschen mit der Neandertaler-Variante des Ionenkanals mehr Schmerzen empfinden. „Wie viel Schmerzen Menschen empfinden, ist vor allem von ihrem Alter abhängig. Menschen, die die Neandertaler-Variante des Ionenkanals haben, empfinden mehr Schmerzen – in etwa so, als wären sie acht Jahre älter“, sagt Erstautor Zeberg. „Die Neandertaler-Variante des Ionenkanals weist drei Aminosäure-Unterschiede zu der üblichen ‚modernen‘ Variante auf. Während einzelne Aminosäuresubstitutionen die Funktion des Ionenkanals nicht beeinträchtigen, führt die vollständige Neandertaler-Variante mit drei Aminosäuresubstitutionen bei heute lebenden Menschen zu einer erhöhten Schmerzempfindlichkeit.“
Auf molekularer Ebene wird der Neandertaler-Ionenkanal leichter aktiviert, was erklären könnte, warum Menschen, die diesen geerbt haben, eine niedrigere Schmerzgrenze haben. „Ob Neandertaler mehr Schmerzen empfunden haben ist allerdings schwer zu sagen, weil Schmerz außerdem sowohl im Rückenmark als auch im Gehirn moduliert wird“, sagt der Paläogenetiker Pääbo. „Aber diese Arbeit zeigt, dass die Schwelle zur Auslösung von Schmerzimpulsen bei Neandertalern niedriger war als bei den meisten heute lebenden Menschen.“
Originalpublikation: Hugo Zeberg et al.: A Neandertal sodium channel increases pain sensitivity in present-day humans, Current Biology, 23 July 2020, DOI: 10.1016/j.cub.2020.06.045
* S. Jacob, Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie, 04103 Leipzig
(ID:46747154)