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Mechanoresponsive Polymersysteme Wenn Kraft über Funktion bestimmt

Von Dr. Ilka Ottleben Lesedauer: 5 min

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Das Verständnis, wie die bemerkenswerten Eigenschaften von Materie aus den komplexen Zusammenhängen ihrer atomaren Bestandteile hervorgehen und wie sie kontrolliert werden können, gehört zu den großen wissenschaftlichen Herausforderungen. Eine Aachener Forschungsgruppe will dies in einem multidisziplinären Ansatz meistern.

Dr. Robert Göstl, RWTH Aachen
Dr. Robert Göstl, RWTH Aachen
(Bild: RWTH Aachen)

Herr Dr. Göstl, Sie leiten eine Forschungsgruppe im Bereich mechanoresponsiver Materialien. Was zeichnet diese Materialklasse aus?

Dr. Robert Göstl: Diese Frage greift ein Kernthema unseres Forschungsfeldes auf: Wir versuchen keine besondere oder eigenständige Materialklasse zu entwickeln, die sich durch bestimmte Eigenschaften auszeichnet. Es geht darum, Responsivität über Kraft in bestehende Materialsysteme einzubringen, um deren Eigenschaften zu verbessern oder zu erweitern. Gerade das ist das Spannende an mechanoresponsiven Materialien. Das kann dann sowohl in sehr weichen Hydrogelen als auch in hochgradig performanten, industriell genutzten Strukturpolymeren (z. B. PET, PMA) passieren.

Eine Gemeinsamkeit all dieser Materialien ist natürlich, dass wir mechanische Kraft als Stimulus nutzen, um eine Funktion ein- oder auszuschalten. Das ist ganz praktisch, weil mechanische Kräfte in fast jedem Einsatzbereich auf Polymere wirken und zwar ganz anders als z. B. Licht oder der pH-Wert. Dabei sind die Anwendungsbereiche vielfältig: Einerseits nutzen wir kraftinduzierte Veränderungen in Fluorophoren für die optische Aufklärung von Bruchmechanismen, andererseits aktivieren wir chemische Funktionen wie Katalysatoren zur Selbstheilung oder die Freisetzung von pharmakologisch wirksamen kleinen Molekülen. Wir versuchen also die Wirkung von mechanischer Kraft auf Polymere zu verstehen, um diese wiederum beispielsweise mechanisch abbaubar oder gar unzerstörbar durch Kraft zu machen.

Welche Rolle spielen maßgeschneiderte responsive, kleine Moleküle für die Beziehung zwischen molekularer und makroskopischer Struktur von Materialien, und wie können gewünschte Materialeigenschaften kontrolliert werden?

Ein nicht unproblematischer Aspekt ist sicherlich die Einführung solcher kraft-responsiver Bausteine in Polymerwerkstoffe. Wie man sich leicht vorstellen kann, reagiert die Polymermatrix empfindlich auf molekulare Veränderungen: Sobald man in einem Polyolefin wie Polyethylen auf molekularer Ebene an einigen Stellen Substituenten einführt, leidet auf makroskopischer Ebene die Kristallinität und damit die thermische Performanz des entsprechenden Werkstoffs. Darüber hinaus besteht auch die konzeptionelle Frage, ob denn die Einführung einer Sollbruchstelle auf molekularer Ebene auch die makroskopischen mechanischen Eigenschaften des Polymers verschlechtert.

Um das zu umgehen und auch Materialeigenschaften zu kontrollieren, verwenden wir beispielsweise für die Aufklärung von Bruchmechanismen sehr empfindliche Kraftsensor-Moleküle, die in niedrigen ppm-Konzen­trationen copolymerisiert werden und daher die mechanischen Eigenschaften des zu untersuchenden Polymers unmerklich verändern. Die Entwicklung solcher Moleküle (so genannter Mechanophore) ist unsere Kernkompetenz und nimmt bestimmt 75 Prozent unseres Forschungsalltags in Anspruch.

Wenn eine Mechanophor-Polymer-Kombination gut funktioniert, kann man daraus erstaunliche Erkenntnisse gewinnen. Uns ist so z. B. aufgefallen, dass Mikrogele, also kolloidale Polymernetzwerke, aufgrund ihrer hohen Molmasse äußerst empfindlich gegen Scherkräfte in Lösung sind und rasch abgebaut werden. Mit dieser Erkenntnis haben wir reversible Vernetzer in solche Mikrogele eingebaut, die als so genannte „Opferbindungen“ dienen und haben damit eine Art Scherkraft-resistente Mikrogele entwickelt.

Wie lassen sich Ihre Erkenntnisse konkret bei der Entwicklung neuer Materialien, z. B. in der Biomedizin, umsetzen?

Mit biomedizinischen Anwendungen erwähnen Sie natürlich direkt den momentan für uns herausforderndsten Forschungsbereich. Als mein Kollege Andreas Herrmann und ich angefangen haben, die Prinzipien der Polymer-Mechanochemie für die Freisetzung von pharmakologischen Wirkstoffen zu entwickeln, waren wir uns vieler konzeptioneller Herausforderungen gar nicht bewusst. Wir dachten uns, dass sowohl in der Polymer-Mechanochemie als auch in der Medizin Ultraschall routinemäßig eingesetzt wird. Daher war unsere Vision, mithilfe von in der Klinik therapeutisch oder diagnostisch genutzten Ultraschallgeräten mechanochemisch Wirkstoffe freizusetzen. Nach und nach kamen die
Probleme ans Licht: Erstens ist der hochenergetische, niederfrequente Ultraschall aus dem Labor zytotoxisch und findet auch nur in den seltensten Fällen klinischen Einsatz. Zweitens war die Beladung mit Wirkstoffen anfänglich äußerst gering, denn die Polymere trugen nur ein einzelnes Mechanophor, mussten aber groß
sein, um die Empfindlichkeit gegen Scherkraft zu erhöhen. Das wiederum erhöhte natürlich den Ballast an „ungenutzter Polymermasse“, die man für solche Freisetzungssysteme benötigte, aber unerwünscht
waren.

Nach und nach haben wir diese kritischen Punkte lösen können und sind inzwischen bei Systemen angekommen, die einen hohen Anteil an Wirkstoffen enthalten und sich selbst mit dem gängig klinisch eingesetzten fokussierten Ultraschall aktivieren lassen. Unser effizientestes System basiert auf extrem langen und schweren Polynukleotid-Aptameren, die sehr selektiv eine Vielzahl von Wirkstoffen binden können. Über die von Ultraschall verursachten Scherkräfte werden diese Polynukleotide auseinandergezogen, fragmentiert und die Wirkstoffe freigesetzt. Damit können wir beispielsweise Antibiotika zielgerichtet freisetzen oder Enzyme aktivieren, die die Blutgerinnung steuern. Wir arbeiten jetzt zusammen mit Klinikern kontinuierlich daran, verbleibende Hürden zu überwinden. Perspektivisch möchten wir, dass unsere Forschungsergebnisse Patienten neue therapeutische Perspektiven bieten.

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Ihre Arbeiten wurden im vergangenen Jahr mehrfach ausgezeichnet und gefördert. Welche Pläne haben Sie für die kommenden Jahre?

Von diesen vielen Auszeichnungen war ich selbst sehr überrascht. Ich sehe das insbesondere als eine Auszeichnung für dieses noch recht junge und exotische Forschungsfeld. Wir arbeiten schon sehr intensiv daran, aber es wird uns auch die kommenden Jahre noch beschäftigen: die Anwendbarkeit mechanoresponsiver Polymersysteme. Das betrifft, wie bereits erwähnt, bei biomedizinischen Materialien klinische Fallstricke zu lösen, aber in Bezug auf Hochleistungskunststoffe insbesondere auch Kostenfragen und die Kompatibilität mit existierenden Verarbeitungsprozessen auf den Prüfstand zu bringen. Das klingt sehr inkrementell und unter Umständen wenig spannend. Tatsächlich liegen dort aber sehr fundamentale Antworten versteckt, beispielsweise die thermische Stabilität von Mechanophoren.

Mechanochemie ist prinzipiell thermische Chemie, die durch das Anlegen einer Kraft an eine Bindung das Absenken der Aktivierungsenergie für die thermische Bindungsdissoziierung zur Folge hat. Das bedeutet, dass jeder Versuch ein Molekül mechanisch responsiv zu machen, es auch automatisch thermisch labil macht, da die mechanische und thermische Aktivierungsenergie fundamental verknüpft sind. Hier tricksen wir mit unterschiedlichen Reaktionspfaden herum, um dieses Pro­blem zu umgehen. Viele Polymere werden jenseits von 160 °C in der Schmelze verarbeitet und bevor wir keine Mechanophore entwickelt haben, die das aushalten, werden wir Kraft-responsive Thermoplasten nicht unter authentischen Bedingungen produzieren können. Sie sehen: Ein breites Feld mit viel Potenzial und unterschiedlichen Spielwiesen, das uns noch viele Jahre beschäftigt und begeistert halten wird.

Zur Person: Dr. Robert Göstl

Robert Göstl hat an der Humboldt-Universität zu Berlin Chemie studiert und war ab 2009 in die Forschung über photochrome Verbindungen in der Arbeitsgruppe von Prof. Stefan Hecht involviert. Dort hat er sein Dipl.-Chem. 2011 für seine Arbeiten zu sterisch überfrachteten, Cyclopenten-verbrückten Dithienyl­ethenen mit verbessertem Schaltverhalten erhalten. 2014 hat er seine Doktorarbeit über die Forschung an Furylthienylethenen zur Photokontrolle der Diels-Alder-Reaktion beendet. Bis 2016 arbeitete er an Rückkopplungsmechanismen für intelligente Mechanophore in der Gruppe von Prof. Rint Sijbesma an der Technischen Universität Eindhoven und leitet heute die unabhängige Forschungsgruppe Mechanoresponsive (Bio)materialien am DWI - Leibniz-Institut für Interaktive Materialien in Aachen.

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