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Den nächsten Wachstumsschub hat Air Liquide der Entscheidung zu verdanken, das Pipeline-Netz auszubauen. 1960 wurde „Oxylor“ in Betrieb genommen, die 150 Tonnen Sauerstoff täglich liefern konnte. Sie versorgte etliche Stahlanlagen über Rohrleitungen mit Sauerstoff, der nun in Tonnen pro Tag anstatt in Kubikmeter pro Stunde abgerechnet wurde. Auch für die chemische Großindustrie wurde Air Liquide zum wichtigen Partner, der große Mengen zuverlässig liefern konnte. Nach und nach baute es sein Netzwerk an Pipelines und Großanlagen in Belgien und Frankreich aus, darunter die damals weltweit größte Anlage in Antwerpen mit 1500 Tagestonnen Kapazität. Schließlich erweiterte das Unternehmen seine Pipeline-Strategie auf Stickstoff. Anfang des 20. Jahrhunderts vertrieb es bereits dreimal mehr Stickstoff als Sauerstoff. Heute bemisst sich das Air-Liquide-Pipeline-Netz auf über 9000 km, mit Schwerpunkten in Nordamerika, einigen asiatischen Ländern sowie Frankreich, Benelux und im Ruhrgebiet.
Treiber Elektronik-Boom
Die Stahlindustrie als einer der Hauptabnehmer der Industriegase-Hersteller geriet Ende der 1970er in eine Krise. Doch es entstanden neue Märkte, etwa der Automobilbau, der Bedarf an flüssigem Argon für das Schutzgasschweißen hatte. Die Kommunikations-, Elektronik- und IT-Technologie ließ die Nachfrage nach hochreinen Gasen für die Halbleiterfertigung in die Höhe schießen. Dem entsprach der Konzern 1987 mit dem Tsukuba Research Center in Japan, wo er Verfahren für die Herstellung von Gasen höchster Reinheit entwickelte.
So ersetzte durch Innovation getriebenes Neugeschäft einen Teil der reduzierten Nachfrage aus der Stahlindustrie. Air Liquide hatte bereits 1968 begonnen, mit der Pulp-and-Paper-Industrie eine neue Kundenzielgruppe zu erschließen. Erstmals hatte das Unternehmen dazu nicht nur das Gas geliefert, sondern auch das Verfahren mitentwickelt. Im 1970 gegründeten Claude-Delorme Research Center bei Paris folgte die Entwicklung zahlreicher weiterer Applikationen für technische Gase, etwa ein Gefriertunnel für die Herstellung von Tiefkühlkost. Die F&E-Strategie hatte sich grundsätzlich gewandelt – von einer Forschung um ihrer selbst willen zu einer, die Qualitäts-, Produktivitäts- und Umwelt-Anforderungen der Kundenzielgruppen im Fokus hatte.
Konsolidierte Stärke
Die Internationalisierungsstrategie war bei Air Liquide, ebenso wie bei Linde, nach zwei Weltkriegen ins Hintertreffen geraten. Das änderte sich 1968, als der französische Konzern durch die Übernahme von American Cryogenics wieder im US-Markt Fuß fasste und schließlich 1986 Big Three Industries übernahm. In Deutschland verstärkte sich Air Liquide 1985 durch die Akquise des CO2-Produzenten Agefko und stieg nach der Wende bei der ostdeutschen Tega ein. Seitdem wuchs die deutsche Air Liquide zusehends und war bald darauf die Nr. 3 im Markt. Auch in diversen Ländern Nordeuropas gab es neue Tochtergesellschaften. Heute ist Air Liquide in 80 Ländern aktiv.
Parallel zu den deutschen Unternehmen Linde und Messer sowie der französischen Air Liquide hatte sich in Schweden der Konzern AGA gebildet, dessen wichtigstes Geschäftsfeld ebenfalls technische Gase war. Medizingase waren bereits in den 1930er Jahren ein wichtiges Standbein. AGA wurde 1999 von Linde übernommen. Einige Jahre vorher hatte bereits Air Liquide die Aktivitäten im Healthcare-Sektor verstärkt und die Tochterfirma Air Liquide Santé gegründet. Zusätzlich zur Sauerstoff-Versorgung von Krankenhäusern stieg sie in den Hygiene-Markt ein.
Auch im 21. Jahrhundert konsolidierte sich der Markt für technische Gase weiter. Schon 1965 wurden für Messer die Weichen dazu gestellt. Das Unternehmen fusionierte mit Knapsack Griesheim zu Messer Griesheim. 2004 gingen die Hoechster Anteile wieder zurück an die Familie Messer. Die Geschäfte in Deutschland, Großbritannien und den USA übernahm dabei Air Liquide für rund 2,7 Mrd. Euro, was es zur Nummer zwei im Markt machte. 2006 folgte die Übernahme von BOC durch Linde. Der bislang letzte Coup war im Mai 2016: Air Liquide übernahm den amerikanischen Marktführer Airgas für 13,4 Mrd. US-Dollar und gilt seitdem als Marktführer weltweit. Die nächste Fusion kündigte sich jedoch noch im Dezember 2016 an. Praxair, ein US-Industriegase-Hersteller, und Linde wollen verschmelzen: zum führenden Industriegase-Konzern mit 29 Mrd. Euro Umsatz und rund 88 000 Mitarbeitern weltweit. Die Wettbewerbshüter reden jedoch noch mit. Mit der Fusion könnten Verkäufe einiger Unternehmensteile verbunden sein, die für Messer, Air Products und Air Liquide interessant sein könnten.
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Meilenstein Gase im Labor
Innovationen im Gasemarkt: „Wir drehen die Innovationspyramide um“
Innovation für Megatrends
Für die verbleibenden Industriegase-Hersteller gilt: In dem Maß, in dem Öl und Gas knapp werden, steigt die Bedeutung von Wasserstoff für Brennstoffzellen, etwa für Heizgeräte oder alternative Antriebe für Autos und Züge. Tankketten-Betreiber und Gaserzeuger wie Linde und Air Liquide haben weltweit begonnen, ein Netz von Wasserstoff-Tankstellen aufzubauen. Da das Gas elektrolytisch erzeugt werden kann, leistet die Brennstoffzellentechnologie einen wichtigen Beitrag zur Speicherung alternativer Energien wie Windkraft- und Solarstrom.
Als Zukunftstechnologie gilt auch die Möglichkeit, Kohlendioxid aus industriellen Emissionen zu nutzen, anstatt das Treibhausgas in die Atmosphäre zu entlassen. Anlagen zur CO2-Abtrennung und Speicherung, wie sie Air Liquide Mitte 2017 in Australien in Betrieb genommen hat, werden an Bedeutung gewinnen. Immer wichtiger wird auch die Versorgung mit medizinischen Gasen, nicht allein für Krankenhäuser, sondern insbesondere auch im Homecare-Sektor. So leisten die Gaserzeuger ihren Beitrag zur Beantwortung der Megatrends: mehr Lebensqualität für immer mehr ältere und kranke Menschen, saubere Luft auch in verkehrsreichen Ballungszentren sowie die Begrenzung der globalen Erwärmung.
* Dr. U. Reutner: Fachjournalistin Technik & Wissenschaft, 86916 Kaufering
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