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Was macht die Situation so gefährlich?
Dennoch ist die Situation ernst und manch ein Forscher sieht bereits das „postantibiotische Zeitalter“ anbrechen. Sorge bereitet den Wissenschaftlern v.a. die Entwicklung so genannter Panresistenzen. Gegen diese Keime sind alle verfügbaren Antibiotika wirkungslos. Vereinzelt aufgetretene Resistenzen gegen das Reserveantibiotikum Colistin machten in diesem Zusammenhang zuletzt Schlagzeilen.
Das bereits in den 1950er Jahren entwickelte Antibiotikum wurde in der Humanmedizin bislang nur noch dann eingesetzt, wenn alle anderen Wirkstoffe versagten. 2016 stießen Ärzte bei einer an einer Harnwegsinfektion erkrankten Frau auf E.coli-Bakterien, die neben anderen Resistenzgenen das Gen mcr-1 in ihrem Genom trugen. Es macht die Keime auch gegen Colistin unempfindlich. Offenbar hatte sich dieses Gen bereits seit längerem weltweit, aber unbemerkt, verbreitet. Jedoch nicht in dem zunächst vermuteten Ausmaß – das ist die gute Nachricht. Sollte sich mcr-1 unter den Keimen jedoch stärker verbreiten, wäre es eine echte Gefahr.
Bislang nur am Rande erwähnt, jedoch im Zuge der Resistenzproblematik von enormer Bedeutung, ist auch in diesem Fall die Veterinärmedizin. Neben Krankenhäusern und mangelnder Hygiene, gilt sie als eine der „Hauptbrutstätten“ für antibiotikaresistente Keime und wichtiger Ausgangspunkt für deren Verbreitung. Denn v.a. in der Tiermast werden Antibiotika in großem Stile in den Beständen eingesetzt. Landwirte sind nicht selten mit antibiotikaresistenten Keimen besiedelt. Auch für den Verbraucher landwirtschaftlicher Erzeugnisse besteht eine gewisse Gefahr, mit antibiotikaresistenten Keimen in Kontakt zu kommen, insbesondere wenn bei bestimmten Produkten wie Hähnchenfleisch allgemeine Hygieneregeln nicht eingehalten werden.
Wahrscheinlich nahm auch das mcr-1-Gen seinen Ursprung in der Tiermast. Denn Colistin ist bei Tierärzten beliebt, u.a. weil es billig ist, in Nutztieren keine Nebenwirkungen verursacht und darüber hinaus auch gegen Durchfälle hilft. Das lange Zeit praktizierte Beimischen von Antibiotika ins Viehfutter, um Bestände präventiv zu behandeln oder das Wachstum der Tiere zu fördern, ist in Deutschland seit 2006 verboten. Seit 2014 gelten hierzulande auch strengere Regeln, was den Einsatz von Antibiotika bei Nutztieren angeht, die u.a. den Antibiotika-Verbrauch reduzieren sollen. Das Problem dürfte jedoch nur durch internationale Ansätze wirklich in den Griff zu bekommen sein.
Warum gibt es so wenig neue Wirkstoffe?
Und durch dringend notwendige neue Wirkstoffe. Doch genau hier liegt, wenn man so will, etwas gefährlich im Argen. Denn verglichen mit anderen Indikationen werden nur sehr wenig neue antibiotische Wirkstoffe beforscht, entwickelt und zur Marktreife gebracht. Für Pharmaunternehmen ist dieses Geschäft schlicht zu unrentabel. Während die Entwicklung teilweise Milliarden kostet, werden die Mittel nach Markteinführung häufig als Reservemedikamente gelistet, also nur dann eingesetzt, wenn kein anderes verfügbares Antibiotikum mehr hilft. Die Absatzzahlen sind also vergleichsweise gering. Schon lange fordern Unternehmen und Verbände hier Unterstützung durch öffentliche Mittel.
Es gibt viele Initiativen und Allianzen, welche die Entwicklung neuer Wirkstoffe beispielsweise durch Start-Ups vorantreiben sollen. Doch meist fehlt es konkret an Geld, um die enormen F&E-Kosten zu stemmen. Das Bundesministerium für Gesundheit hat 2015 gemeinsam mit den Bundesministerien für Ernährung und Landwirtschaft sowie Bildung und Forschung die Deutsche Antibiotika-Resistenzstrategie „DART 2020“ verabschiedet, Die hatte sich u.a. zum Ziel gesetzt, Forschung und Entwicklung in diesem Bereich zu stärken.
Insbesondere die Pharmariesen ernten viel Kritik für ihr mangelndes (finanzielles) Engagement oder ihren vollständigen Rückzug aus diesem wichtigen F&E-Zweig. Wie so oft, wurde sich in den vergangenen Jahren viel Schuld gegenseitig in die Schuhe geschoben.
Wie ist es um die Antibiotika-Forschung und -Entwicklung in Deutschland bestellt?
- Nach Angaben des Verbands forschender Pharmaunternehmen (vfa) wurde vor 13 Jahren (2007) die letzte neue Klasse von Erreger-übergreifend einsetzbaren Antibiotika entwickelt: die Pleuromutiline.
- Danach folgten noch zwei speziell gegen Tuberkulose eingesetzte Klassen: die Diarylchinoline (2013) und die Dihydro-Nitroimidazooxazole (2014).
- Derzeit arbeiten nach Angaben des vfa weltweit ein paar große, v.a. aber mehr als 50 kleine und mittlere Unternehmen an neuen Antibiotika und anderen antibakteriell wirksamen Medikamenten (s. Abb. 2 und 3) .
Nach Ansicht des Verbands der Diagnostica-Industrie (VDGH) sei zudem „Labordiagnostik der stärkste Hebel bei der Bekämpfung von Antibiotikaresistenzen", sagt der Geschäftsführer des Verbandes der Diagnostica-Industrie (VDGH), Dr. Martin Walger. „Moderne Labortests geben dem behandelnden Arzt eine Entscheidungshilfe in der Infektionssaison und sichern den zielgenauen Einsatz von Antibiotika ab. Neben Tests, die im Facharztlabor analysiert werden, können patientennahe Tests schon in der Arztpraxis Hinweise auf eine bakterielle oder virale Ursache der Infektion geben. Sie unterstützen den Arzt dabei, die Verordnungen von Antibiotika von Anfang an zu reduzieren“, so Walger. Für den Patienten kann die Ausstellung eines prophylaktischen Antibiotikarezepts oder ein erneuter Arztbesuch entfallen, wenn der Test entsprechende Klarheit verschafft.
Die Kritik über ihr mangelndes Engagement bei der Suche nach neuen antibiotischen Wirkstoffen scheinen sich indes einige der kritisierten Pharmariesen nun zu Herzen genommen zu haben: Im Juli verkündeten 23 führende Biopharmaunternehmen den Start des AMR Action Fund, der bis 2030 die Entwicklung von zwei bis vier neuartigen Antibiotika ermöglichen soll. Knapp eine Milliarde Euro wollen die Unternehmen dafür gemeinsam in die Hand nehmen. Das macht Hoffnung, entlässt aber auch die Politik nicht aus der Verantwortung. Letztlich sind wie so oft alle gefragt, will man dem Problem Herr werden, denn auch bessere Hygiene ist Teil der Lösung, ebenso wie weniger verschriebene Antibiotika.
Literatur:
[1] Zacher B et al.: Application of a new methodology and R package reveals a high burden of healthcare-associated infections (HAI) in Germany compared to the average in the European Union/European Economic Area, 2011 to 2012 (Eurosurveillance, November 2019)
[2] Bericht des ECDC: Point prevalence survey of healthcare-associated infections and antimicrobial use in European acute care hospitals 2011–2012
[3] Cassini et al.: Burden of Six Healthcare-Associated Infections on European Population Health: Estimating Incidence-Based Disability-Adjusted Life Years through a Population Prevalence-Based Modelling Study. PLOS Medicine, DOI: 10.1371/journal.pmed.1002150, October 1, 2016
[4] Gastmeier et al.: Wie viele nosokomiale Infektionen sind vermeidbar? Dtsch Med Wochenschr 2010; 135:91-93“
[5] Gastmeier, Fätkenheuer: Dilemma mit Begriffen und Zahlen. Deutsches Ärzteblatt, April 2015
[6] Abschlussbericht der Punkt-Prävalenzerhebung 2011 zum Vorkommen von nosokomialen Infektionen und zur Anwendung von Antibiotika an Akutkrankenhäusern in Deutschland, Nationales Referenzzentrum für Surveillance von nosokomialen Infektionen
* Dr. I. Ottleben, Redaktion LABORPRAXIS, E-Mail ilka.ottleben@vogel.de
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