Gestörte Wahrnehmung oder Schönheitsideal? Magersucht vor dem virtuellen Spiegel
Das eigene Körpergewicht ist für manche Menschen eine immerwährende Baustelle. Besonders junge Frauen fühlen sich häufig zu dick. In extremen Fällen kann dies zu krankhaften Essstörungen führen. Bislang galt eine verzerrte Selbstwahrnehmung als gängige Erklärung für Magersucht. Eine neue Studie legt aber nahe: Stark untergewichtige Frauen sind sich ihres geringen Körpergewichtes durchaus bewusst, sie bevorzugen dieses aber gegenüber einem normalgewichtigen Körper.
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Tübingen, Stuttgart – Magersucht betrifft vor allem Frauen. Etwa 20 Mal so viele Frauen wie Männer leiden an dieser Form der Essstörung. Die Ursachen können vielfältig sein, häufig wird eine verzerrte Selbstwahrnehmung der Patientinnen genannt. Sie würden sich demnach selbst als zu dick einschätzen und daher ständig den Drang verspüren, Gewicht verlieren zu müssen.
Dieses Phänomen hat kürzlich ein interdisziplinäres Team von Wissenschaftlern des Max-Planck-Instituts für biologische Kybernetik, der Universität Tübingen und des Max-Planck-Instituts für intelligente Systeme näher untersucht. Dazu haben sie gesunde Frauen und Männer sowie Magersucht-Patientinnen vor ihr virtuelles Abbild gestellt und ihre Selbstwahrnehmung überprüft.
Gewichtsanpassung per Knopfdruck
Die Forscher haben für ihre Studie dreidimensionale Körpermodelle, so genannte Avatare, von über 100 Testpersonen in einem Körperscanner erstellt. Die Testpersonen konnten dann ihr lebensgroßes virtuelles Selbst auf einem Bildschirm beobachten und das Gewicht des Avatars mit einem Joypad verändern. Die Forscher baten die Versuchspersonen, den Körper des Avatars so im Gewicht anzupassen, bis er ihrem tatsächlichen Gewicht entsprach. So wollten die Forscher herausfinden, wie sich die Teilnehmer selbst wahrnehmen: Schätzen die Probanden ihr Körpergewicht richtig ein? Diese Frage ist besonders relevant für die Therapie von Essstörungen, die bisher daran ansetzt, die Überbewertung des eigenen Körperbildes zu therapieren.
Übertreibung bei dick und dünn, aber nicht bei magersüchtig
Die Wissenschaftler fanden heraus, dass gesunde Männer und Frauen im Normalgewichtsbereich ihr Körpergewicht entweder genau einschätzen oder leicht unterschätzen. Untergewichtige Frauen unterschätzen ihr Körpergewicht, während übergewichtige und adipöse Frauen ihr Körpergewicht überschätzen. Mit anderen Worten: Menschen scheinen ihre Körpergewichtskategorie (dick/dünn) genau wahrzunehmen, akzeptierten aber bereitwillig alle Spiegelbilder als korrekt, die ihrer Gewichtskategorie entsprechen oder sie sogar übertreiben.
Überraschend aber war: Patientinnen mit Magersucht, also einem Body-Mass-Index zwischen 12,7 und 18 kg/m², waren bei der Schätzung ihres Gewichts genauso treffsicher wie gesunde Frauen. Dieses Ergebnis steht im Gegensatz zu der verbreiteten These, dass Magersucht auf ein verzerrtes Selbstbild des eigenen Körpers zurückzuführen ist.
Doch keine verzerrte Selbstwahrnehmung bei Magersucht?
Bislang deuteten viele Studien darauf hin, dass magersüchtige Frauen an einer verzerrten visuellen Selbstwahrnehmung leiden und sich selbst als zu dick wahrnehmen, obwohl sie in der Regel stark untergewichtig sind. „Dafür haben wir aber keine Hinweise gefunden“, sagt Dr. Katrin Giel, Leiterin der Forschungsgruppe für Psychobiologie des Essverhaltens von der Universität Tübingen. „Vielmehr haben schlankere Frauen und Patientinnen mit Magersucht ihr virtuelles Körpergewicht leicht unterschätzt. Die Abweichungen von den normalgewichtigen Testpersonen waren jedoch sehr gering.“
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