Neutronentechnologie Mit Neutronen gegen Covid-19
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Man kann nur bekämpfen, was man kennt. Das gilt auch für SARS-CoV-2 – den Auslöser von Covid-19. Fortschrittliche Neutronenquellen des Instituts Laue-Langevin liefern nun wichtige Erkenntnisse zu dem neuen Coronavirus und damit mögliche Ansatzpunkte für medikamentöse Therapien.

Die Covid-19-Pandemie mobilisierte in Rekordzeit die wissenschaftliche Gemeinschaft – und zwar nicht nur im pharmazeutischen und medizinischen Bereich. Seit dem Ausbruch der Pandemie nutzen Wissenschaftler auf der ganzen Welt große Forschungseinrichtungen zur Untersuchung des Coronavirus: Synchrotrone, die leistungsstarke Röntgenstrahlen aussenden, Kryoelektronenmikroskope und Anlagen zur Kernspinresonanzspektroskopie. Sie sollen die Proteinstruktur des Coronavirus (SARS-CoV-2), das zur Atemwegserkrankung Covid-19 führt, bestimmen und potenzielle Medikamente identifizieren, die sich an die Proteine des Virus binden können, um die viralen Abläufe zu stören.
Mithilfe von leistungsstarken Analyseinstrumenten wie Neutronenquellen decken Forscher die unsichtbaren Strukturen und Funktionsweisen des Virus auf, um herauszufinden, wie potenzielle Arzneimittel in kurzer Zeit entwickelt werden können.
Doch Covid-19 wirkte sich weltweit stark auf den Betrieb der Neutronenquellen aus: Mit einer Ausnahme (die Organisation ANSTO in Australien setzte die Produktion von Radioisotopen fort) wurden sämtliche Neutronenquellen stillgelegt. Die wissenschaftliche Gemeinschaft verlor nach den Lockerungen jedoch keine Zeit und nahm die Aktivitäten schnell wieder auf: Einige Einrichtungen, wie das Oak Ridge National Laboratory (ORNL) in den USA, richten nun den Betrieb ihrer Quellen ausschließlich auf Covid-19-bezogene Forschung aus.
In Europa arbeiten Wissenschaftler derzeit am Institut Laue-Langevin (ILL) in Grenoble aktiv an Projekten zur Bekämpfung von SARS-CoV-2. Spezielle Forschungsteams auf dem ILL-Gelände fokussieren sich auf Experimente mit einer Reihe von Neutronenstreuungstechniken – darunter Neutronenbeugung, Kleinwinkelneutronenstreuung, Reflektometrie und Spektroskopie, die Einblicke liefern, die andere Untersuchungsmethoden nicht bieten können.
Einzigartige Eigenschaften von Neutronen
Neutronen sind besonders gut geeignet für die Untersuchung biologischer Makromoleküle in Lösungen, Kristallen und teilweise geordneten Systemen. Im Gegensatz zu Röntgenstrahlen und Elektronen sind Neutronen elektrisch neutral und können daher tief in die Materie eindringen, ohne die Proben zu beschädigen. Dies macht sie zum idealen Instrument für die Strukturbiologie, um Experimente bei Raumtemperatur durchzuführen, die nahe an der Körpertemperatur liegt.
Neutronen werden im Gegensatz zu Röntgenstrahlen, die von Elektronen gestreut werden, von Atomkernen gestreut, sodass die Neutronenstreulängen keine Korrelation mit der Anzahl der Elektronen aufweisen, sondern von den Kernkräften abhängen, die zwischen verschiedenen Isotopen variieren können. Wasserstoff (H) streut Röntgenstrahlen nur sehr schwach und Protonen (H+) streuen Röntgenstrahlen überhaupt nicht. Bei der Anwendung von Neutronen verhält sich Wasserstoff ähnlich wie andere Elemente (C, N, O, S, P) biologischer Makromoleküle, die alle lokalisiert werden können.
Da Wasserstoff und sein Isotop Deuterium (2H/D) unterschiedliche Streulängen und Vorzeichen aufweisen, kann dies in Neutronenstudien genutzt werden, um die Sichtbarkeit spezifischer Strukturmerkmale zu verbessern, indem ein Isotop durch das andere ersetzt wird. Beispiele hierfür sind SANS-Untersuchungen von makromolekularen Strukturen, die 3D-Informationen über die molekulare Form in niedriger Auflösung liefern, ohne dass eine Kristallisation erforderlich ist. Auch Neutronenkristallographie-Untersuchungen von Proteinen sind möglich: Diese liefern hochauflösende Strukturen von Proteinen, einschließlich der Position einzelner Wasserstoffatome, die gegen Deuterium ausgetauscht wurden, um sie besonders sichtbar zu machen.
Das globale Netzwerk von fortschrittlichen Neutronenquellen liefert für diese Neutronenstreuexperimente die notwendige Infrastruktur. Dazu gehören führende europäische Neutroneneinrichtungen: ILL in Grenoble (Frankreich), das MLZ in Garching (Deutschland), das ISIS in Didcot (Großbritannien) und das PSI in Villingen (Schweiz). Das neue europäische Flaggschiff unter den Neutronenquellen – die Europäische Spallationsquelle – wird derzeit in Lund (Schweden) gebaut.
Covid-19 behandeln und aufhalten
Proteasen sind wie eine biologische Schere, die Polypeptidketten – die Primärstruktur von Proteinen – präzise durchschneiden. Wird diese Teilung durch geeignete antivirale Medikamente gehemmt, bleiben so genannte Poly-Proteine in ihrem ursprünglichen Zustand und die Virusvermehrung wird blockiert. Damit die Behandlung effizient ist, muss diese Hemmung nachhaltig sein. Das heißt, das Medikament, das das aktive Zentrum besetzt, sollte stark gebunden sein, idealerweise an Atome in der Hauptkette der Protease. Dadurch erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass Behandlungen trotz Mutationen des Enzyms langfristig wirksam sind, da Mutationen nur innerhalb der Seitenketten des Enzyms auftreten. Die Neutronenforschung liefert daher einen wesentlichen Beitrag zur langfristigen Entwicklung von Arzneimitteln. Verstärkt wird dies durch die fortgeschrittene computergestützte Arzneimittelentwicklung mittels Hochleistungsrechnern, künstlicher Intelligenz sowie umfangreichen experimentellen Strukturdaten.
Die Neutronenkristallographiedaten ergänzen die Röntgendaten um zusätzliche Strukturinformationen: Sie liefern wichtige Details über Wasserstoffatome und Protonen, die bei der Bindung solcher Medikamente an ihr Zielenzym durch Wasserstoffbrückenbindung eine entscheidende Rolle spielen. So decken Neutronen wichtige Details der Proteinchemie auf und helfen Forschern, den genauen katalytischen Weg des Enzyms zu entschlüsseln. Auf diese Weise können Neutronenkristallographiedaten helfen, zu verstehen, wie Enzyme funktionieren, um wirksamere Medikamente zu entwickeln.
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