Details zur Lichtwahrnehmung mit Rhodopsin und Retinal Die Biochemie des Sehens aufgeschlüsselt
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Sehen scheint so einfach: Augen auf, und fertig. Doch für unsere visuelle Wahrnehmung muss im Auge einiges passieren. Die zentrale Rolle spielt dabei ein spezielles Molekül im Lichtrezeptor, das in Sekundenbruchteilen seine Form ändert. Diese Formwandlung hat ein Team von Forschern am Paul-Scherrer-Institut nun im Detail beschrieben.

Es ist nur eine winzige Veränderung eines Proteins in unserer Netzhaut: Diese Änderung findet innerhalb einer unglaublich kleinen Zeitspanne statt und ist der Auslöser dafür, dass wir Licht wahrnehmen und sehen. Diese Proteinveränderung ist auch der einzige vom Licht abhängige Schritt im Sehprozess. Was genau nach der allerersten billionstel Sekunde der visuellen Wahrnehmung passiert, haben PSI-Forscher nun mithilfe des Schweizer Freie-Elektronen-Röntgenlasers SwissFEL am Paul-Scherrer-Institut (PSI) untersucht.
![Abb.1.: Das menschliche Auge schützt sich mit Tränenfluss und verschiedenen Barrieren gegen eindringende Fremdstoffe. (Bild: ©fotomowo - stock.adobe.com_[M]-Frank) Abb.1.: Das menschliche Auge schützt sich mit Tränenfluss und verschiedenen Barrieren gegen eindringende Fremdstoffe. (Bild: ©fotomowo - stock.adobe.com_[M]-Frank)](https://cdn1.vogel.de/4Z8LFQFwuUSJtN8Brwhd2zox024=/320x180/smart/filters:format(jpg):quality(80)/p7i.vogel.de/wcms/9c/95/9c957cb0e6698305a37f4baabb2d2d3e/90297555.jpeg)
Modelle für die Augenheilkunde
Wirkstoffentwicklung im Auge des Betrachters
Im Mittelpunkt des Geschehens steht unser Lichtrezeptor: das Protein Rhodopsin. Im menschlichen Auge wird es von spezialisierten Sinneszellen hergestellt, den Stäbchenzellen, die Licht wahrnehmen. In der Mitte des Rhodopsins ist ein kleines geknicktes Molekül gebunden: Retinal, Abkömmling des Vitamin A. Trifft Licht auf das Protein, absorbiert Retinal einen Teil der Lichtenergie. Blitzschnell verändert es dann seine dreidimensionale Gestalt. Der Schalter im Auge wird so von „Aus“ auf „Ein“ umgelegt. Daraufhin läuft eine Kaskade von Reaktionen ab, die damit endet, dass wir einen Lichtblitz wahrnehmen.
Eine Drehung „an der Leine“
Was aber passiert im Detail, wenn sich Retinal von der so genannten 11-cis-Form in die All-trans-Form umwandelt? „Ausgangspunkt und Endprodukt der Retinalumwandlung sind schon lange bekannt, aber noch nie hat jemand in Echtzeit beobachtet, wie genau die Veränderung am Sehpigment Rhodopsin abläuft“, sagt Valérie Panneels, Wissenschaftlerin im Forschungsbereich Biologie und Chemie am PSI.
Panneels vergleicht das Geschehen mit einer Katze, die mit dem Rücken voran vom Baum fällt und am Ende unbeschadet auf ihren Füßen landet. „Die Frage ist: Welche Zustände nimmt die Katze während ihres Falls ein, also während sie sich vom Rücken auf den Bauch dreht?“ Wie die PSI-Forscher herausfanden, beginnt die Retinal-Katze sich zuerst mit ihrer Körpermitte zu drehen. Überraschend war für Panneels der Moment, als sie realisierte, was außerdem passiert: Das Protein nimmt einen Teil der Lichtenergie auf, um sich kurzzeitig minimal aufzublähen – „ähnlich wie unser Brustkorb, der sich beim Einatmen ausdehnt, um sich kurz darauf wieder zusammenzuziehen.“
Während dieses „Aufatmens“ verliert das Protein vorübergehend den größten Teil seines Kontakts zum Retinal, das in seiner Mitte sitzt. „Retinal ist an seinen Enden zwar noch immer über chemische Bindungen ans Protein gebunden, aber es hat nun Platz genug, um sich zu drehen.“ Das Retinal-Molekül ist in dem Moment wie eine locker angeleinte Katze, die einen Satz macht, aber eben nicht komplett vom Protein Rhodopsin loskommt. Kurze Zeit später zieht das Protein sich wieder zusammen und hat auch sein Retinal erneut fest im Griff, jetzt aber mit einer anderen, eher verlängerten Form. „So schafft das Retinal es, sich zu drehen – ganz unbehelligt von dem Protein, in dem es steckt.“
Eines der schnellsten Ereignisse in der Natur
Die Umwandlung des Retinals von der geknickten 11-cis-Form in die verlängerte All-trans-Form dauert nur eine Pikosekunde, also ein millionstel Teil einer millionstel Sekunde. Damit ist es einer der schnellsten Vorgänge in der Natur überhaupt. So schnelle biologische Vorgänge lassen sich mit einem Freie-Elektronen-Röntgenlaser wie dem Swiss FEL aufzeichnen und analysieren. „Der Swiss FEL erlaubt uns, grundlegende Prozesse unseres Körpers − wie den Sehprozess − im Detail zu studieren“, sagt Gebhard Schertler, Leiter des PSI-Forschungsbereichs Biologie und Chemie und gemeinsam mit Panneels Letztautor der Studie.
In Analogie mit der Katze wäre das so, als würde man deren Fall mit einer Hochgeschwindigkeitskamera filmen. Allerdings: Die Swiss-FEL-Kamera filmt sogar noch Milliarden Mal schneller. Auch gehört bei Großforschungsanlagen etwas mehr dazu, als auf den Auslöseknopf zu drücken. So verbrachte Doktorand Thomas Gruhl Jahre damit, eine Methode zu entwickeln, um hochqualitative Rhodopsinkristalle zu gewinnen, welche höchstaufgelöste Daten lieferten. Nur mit diesen war es schließlich möglich, die nötigen Messungen durchzuführen. (clu)
Originalpublikation: Gruhl, T., Weinert, T., Rodrigues, M.J. et al.: Ultrafast structural changes direct the first molecular events of vision, Nature, 22.03.2023 (online); DOI: 10.1038/s41586-023-05863-6
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