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Seltene Erkrankungen Ohne Odyssee: Neue Software beschleunigt Diagnose Seltener Erkrankungen

Von Wim Van Daele*

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Die Diagnose und Behandlung Seltener Erkrankungen gestaltetet sich häufig enorm schwierig – für die betroffenen Patienten eine oft kaum tragbare Belastung, die nicht selten mit einer wahren Ärzte-Odyssee einhergeht. Genomische DNA und eine neue Auswertesoftware könnten viel Zeit ein- und Leid ersparen.

Abb. 1: Vorteile der mobilen Sequenzierung
Abb. 1: Vorteile der mobilen Sequenzierung
(Bild: Imec)

Mehr als 300 Millionen Menschen auf der ganzen Welt leiden an einer oder mehreren der etwa 6000 identifizierten so genannten Seltenen Erkrankungen. Da manchmal nur eine Handvoll Menschen an der gleichen Krankheit leiden, gestaltet sich die Diagnose und Behandlung dieser Erkrankungen schwierig. Aus einem anfänglichen Arztbesuch entwickelt sich für die betroffenen Patienten oft eine wahre Odyssee, bei der sie von einem Arzt zum nächsten geschickt werden, bis schließlich eine Diagnose gestellt werden kann.

Die richtige Diagnose zu stellen und eine angemessene Behandlung zu beginnen, ist jedoch auch für den Arzt schwierig. Gegenwärtig ist hier viel gewissermaßen dem Zufall überlassen: So geschieht es beispielsweise häufig, dass ein Arzt bei einer Konferenz eine kurze Präsentation über die Symptome seines Patienten hält. Manchmal ist ein anderer Arzt im Raum, der dieselben Symptome bei einem seiner Patienten wiedererkennt. Auf diese Weise wird eine Seltene Erkrankung erkannt: Dies bleibt jedoch ein höchst primitiver Prozess, und die Erfolgschancen sind dementsprechend begrenzt.

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LP-Info: Wie selten ist selten?

In der Europäischen Union gilt eine Erkrankung als selten, wenn nicht mehr als 5 von 10.000 Menschen in der EU von ihr betroffen sind. Da es mehr als 6000 unterschiedliche Seltene Erkrankungen gibt, ist die Gesamtzahl der Betroffenen trotz der Seltenheit der einzelnen Erkrankungen hoch. Allein in Deutschland leben Schätzungen zufolge etwa vier Millionen Menschen mit einer Seltenen Erkrankung (SE), in der gesamten EU geht man von 30 Millionen Menschen aus. Quelle: www.bundesgesundheitsministerium.de

Lücke bei Diagnose Seltener Erkrankungen überbrücken

Um diesen Prozess zu verbessern, entwickelten Forscher an der KU Leuven eine spezialisierte Software und schlossen sich dann mit dem Exascience Life Lab von Imec zusammen, um die Software und die zugrunde liegende Plattform weiterzuentwickeln. Dies geschah im Rahmen des imec.icon-Projekts „GAP“ (Genome Analytics Platform). Laut Roel Wuyts, Teamleiter im Exa­science Life Lab, wird die personalisierte und mobile Sequenzierung einen enormen Impuls für den Diagnoseprozess geben. Anlässlich des Tages der Seltenen Erkrankung teilt er seine Vision darüber mit, wie diese Technik im Kampf gegen Seltene Erkrankungen eingesetzt werden kann.

Ungefähr 70% der Seltenen Erkrankungen sind auf eine genetische Störung zurückzuführen. Im Rahmen des GAP-Projekts haben die KU Leuven und das Exascience Life Lab eine Software-Plattform entwickelt, in die Ärzte den genetischen Code und Phänotyp ihrer Patienten hochladen können.

„Ärzte in den teilnehmenden Krankenhäusern können die so genannte WiNGS-Software nutzen, um in der DNA nach ähnlichen äußeren Merkmalen und Indikationen zu suchen. Bei positiven Ergebnissen können die Ärzte beider Patienten wie bei einer Konferenz miteinander in Kontakt treten, allerdings dann nicht persönlich, sondern online. Darüber hinaus ist die Vertraulichkeit der Suchanfrage gewährleistet, sodass die Daten des Patienten und die des Arztes, der die Suchfunktion nutzt, geschützt sind“, so Roel Wuyts.

DNA als Grundlage für den Diagnoseprozess

Das System setzt voraus, dass die DNA bereits verfügbar ist, idealerweise mit einigen interessanten Varianten. Zu diesem Zweck wird zunächst eine Trio-Analyse durchgeführt, bei der man die DNA des Patienten mit der der beiden biologischen Eltern vergleicht. In den meisten Fällen handelt es sich bei den Patienten um ein Säugling oder Kleinkind, denn 70% der Seltenen Erkrankungen manifestieren sich bereits in sehr jungen Jahren. Wenn die Eltern die Krankheit nicht haben, kann die DNA des Kindes durchsucht werden, um Anomalien – oft in einer Kombination von Genen – zu finden. Natürlich werden auch Varianten entdeckt, die nichts mit der Krankheit zu tun haben, denn jeder Mensch ist einzigartig, aber auf diese Weise wird die Liste der Kandidatengene bereits deutlich verkürzt und die Suche dadurch effizienter gestaltet.

Doch auch Sequenzierung und DNA-Analyse sind immer noch relativ aufwändig – schnell sind dabei drei bis vier Tage vergangen. „Wenn die Diagnose von Seltenen Erkrankungen u.a. durch den Einsatz von Trio-Analysen besser unterstützt werden soll, muss der Prozess wesentlich schneller, einfacher und billiger werden. Deshalb wollen wir im Rahmen der personalisierten Medizin die personalisierte mobile Sequenzierung als Lösung vorantreiben“, erklärt Roel Wuyts.

Personalisierte mobile Sequenzierung: von der Probe zur DNA-Sequenz in 4 Stunden

Für die personalisierte und mobile Sequenzierung werden zwei Bestandteile benötigt: ein geeignetes Gerät und die Populationsgenomik. Das Gerät muss es ermöglichen, innerhalb von vier Stunden (statt drei bis vier Tagen) von einer Rohprobe zu einem Analyseergebnis zu gelangen. Da der gesamte Prozess – von der Probe bis zum Ergebnis – in ein und demselben Gerät abläuft, ist er auch wesentlich effizienter. So könnte beispielsweise schon auf der Entbindungstation eine Probe hochgeladen und vier Stunden später herausgefunden werden, was dem Neugeborenen fehlt und ob es sich um eine bekannte Seltene Erkrankung handelt.

„Aber um solche Diagnosen stellen zu können, braucht man auch DNA ... sehr viel davon. Bei Seltenen Erkrankungen muss man das gesamte Genom betrachten, denn es geht nicht um eine Krankheit, sondern um eine Sammlung von Krankheiten. Außerdem braucht man neben der DNA eine Menge Informationen über all diese verschiedenen Seltenen Erkrankungen, denn bevor man sagen kann, dass es eine solche Erkrankung vorliegt, müssen bereits viele Analysen durchgeführt worden sein. Dies ist es, was wir groß angelegte Populationsgenomik nennen".

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Eine Lösung in naher Zukunft

„In den nächsten Jahren möchte Imec beide Aspekte abdecken: generell für die personalisierte Medizin, aber auch speziell für Seltene Erkrankungen. Wir haben bereits eine Menge der technologischen Bausteine, um die angestrebten vier Stunden zu erreichen, z.B. unsere Arbeit an der Mikrofluidik, die eigentlichen Sequenzierungschips, die spezifische Software und die Arbeit am neuromorphen Computing, um die Analysen schneller zu machen. Es sind jedoch noch Arbeiten erforderlich, um alle Elemente zu integrieren. Realistischerweise denke ich, dass wir ein personalisiertes und mobiles Sequenziergerät in vier bis fünf Jahren erreichen können", erklärt Roel Wuyts.

Der Schutz der Privatsphäre wird eine entscheidende Komponente sein. „In vier bis fünf Jahren wird es eine ganze Menge mehr genomische und klinische Daten geben, aber sie werden auch verbreitet werden. Bei diesen Daten wollen wir die Populationsgenomik im großen Maßstab so betrachten, dass die Privatsphäre geschützt ist und die Daten nicht aggregiert werden müssen. Das ist jedoch aus praktischer Sicht schwierig, denn man bräuchte eine sehr große Datenbank für alle Genomdaten. Und außerdem – wo würden Sie eine solche Datenbank unterbringen? Für dieses Projekt denken wir auf europäischer Ebene und darüber hinaus, aber in einigen Ländern gibt es z.B. Vorschriften für medizinische Daten, die das Land nicht verlassen dürfen. Wir wenden uns daher Techniken zu, die die Privatsphäre schützen, ein Bereich, in dem Exascience über jahrelange Erfahrung verfügt, sodass alle Sequenziergeräte an dasselbe System angeschlossen werden können“.

Was ist für Seltene Erkrankungen drin?

Ein personalisiertes mobiles Sequenziergerät ist für verschiedene Parteien attraktiv. Zum einen erhalten Ärzte und ihre Patienten schneller Antworten, ohne sich auf eine Odyssee begeben zu müssen. Zweitens können Forscher das System nutzen, um neue Anomalien zu finden. Sie können z.B. maschinelles Lernen auf die Daten anwenden, um Korrelationen zu finden. Auf diese Weise kann proaktiv nach unbekannten Seltenen Erkrankungen gesucht werden. Schließlich ist es auch für die pharmazeutische Industrie nützlich, die unter den neuen und alten Seltenen Erkrankungen nach potenziellen Angriffspunkten suchen kann, um Medikamente zu entwickeln. Die Tatsache, dass eine solch groß angelegte Datensammlung unter Wahrung des Datenschutzes durchgeführt werden kann, macht sie für diese Zielgruppe sehr interessant.

* W. Van Daele: Imec, 3001 Leuven/Belgien

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