Luftverschmutzung Radikal unterschätzt: Die Gefahr durch Feinstaub
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Gesundheitsgefahr durch Feinstaub ist ein bekanntes Thema. Doch eine neue Studie von Forschern des Paul-Scherrer-Instituts legt nahe, dass die Partikel gerade bei alltäglichen Wetterbedingungen ein besonders aggressives chemisches Potenzial entfalten, was bisher unterschätzt wurde: die vermehrte Bildung von Sauerstoffradikalen.

Villigen/Schweiz – Feinstaubpartikel mit einem maximalen Durchmesser von zehn Mikrometern können tief ins Lungengewebe vordringen und sich dort festsetzen. Je mehr Partikel in der Luft schweben, desto höher das Gesundheitsrisiko. Die Partikel gelangen zwar auch aus natürlichen Quellen wie Wäldern oder Vulkanen in die Luft. Doch menschliche Aktivitäten, beispielsweise in Fabriken und Verkehr, vervielfachen die Menge, sodass bedenkliche Konzentrationen erreicht werden.
Wie man mittlerweile herausgefunden hat, ist besonders die chemische Aktivität der Partikel ein Risikofaktor für die Gesundheit: Feinstaub enthält reaktive Sauerstoffverbindungen (ROS), auch Sauerstoffradikale genannt, die Zellen in der Lunge schädigen können. Das Potenzial des Feinstaubs, Sauerstoffradikale in die Lunge zu bringen oder dort zu erzeugen, ist für verschiedene Quellen bereits untersucht worden. Forscher des Paul-Scherrer-Instituts PSI haben nun erstmals die photochemischen Vorgänge im Innern kleinster Partikel in der Luft beobachtet und entdeckt, dass die aggressiven Radikale häufiger entstehen als bisher gedacht.
So bekommt Feinstaub sein Gefährdungspotenzial
Die Wissenschaftler untersuchten Partikel mit organischen Bestandteilen und Eisen. Das Eisen stammt aus natürlichen Quellen wie Wüstenstaub oder Vulkanasche, ist aber auch in Emissionen von Industrie und Verkehr enthalten. Die organischen Bestandteile resultieren ebenfalls aus natürlichen und menschgemachten Quellen. In der Atmosphäre verbinden sich diese Bestandteile zu Eisenkomplexen, die dann unter Sonneneinstrahlung zu Radikalen reagieren. Diese wiederum binden allen verfügbaren Sauerstoff und produzieren so die reaktiven Sauerstoffverbindungen.
Normalerweise würde ein größerer Teil dieser ROS in der Wärme der Sonne aus den Partikeln in die Luft diffundieren. Wenn ein Mensch diese Partikel dann einatmet, wäre dies ungefährlicher, da nur noch wenige reaktive Sauerstoffverbindungen enthalten wären.
Unter bestimmten Bedingungen reichern sich die Radikale jedoch im Inneren der Partikel an und verbrauchen dort binnen Sekunden den gesamten verfügbaren Sauerstoff. Das hängt von der Viskosität der Teilchen ab: Feinstaub kann fest wie Stein oder flüssig wie Wasser sein – aber je nach Temperatur und Feuchte auch zähflüssig wie Sirup, Kaugummi oder Schweizer Kräuterzucker. „Dieser Zustand des Partikels, so haben wir festgestellt, sorgt dafür, dass die ROS im Partikel gefangenbleiben“, sagt Peter Aaron Alpert, Erstautor der neuen PSI-Studie. Und von außen gelangt auch kein zusätzlicher Sauerstoff hinein.
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Gesundheitsrisiko Luftverschmutzung
Welcher Feinstaub ist der schlimmste?
Größte Feinstaubgefahr bei „Alltagswetter“
Besonders ungünstig für die Menschen ist, dass sich durch das Zusammenspiel von Eisen und organischen Verbindungen die höchsten Konzentrationen der ROS bei alltäglichen Wetterbedingungen bilden: bei mittlerer Luftfeuchte von 50 Prozent und Temperaturen um die 20 °C, wie sie etwa in Räumen herrschen. „Früher dachte man, dass ROS in der Luft – wenn überhaupt – nur dann entstehen, wenn die Feinstaubteilchen vergleichsweise seltene Verbindungen wie Chinone enthalten“, sagt Alpert. Das sind oxidierte Phenole, die etwa in Farbstoffen von Pflanzen und Pilzen vorkommen. Seit Kurzem ist klar, dass viele weitere ROS-Quellen im Feinstaub vorhanden sind. „Wie wir nun feststellten, können diese bekannten ROS-Quellen unter völlig alltäglichen Bedingungen deutlich verstärkt werden.“ Etwa jedes zwanzigste Partikel ist organisch und enthält Eisen – und ist somit potenziell geeignet, reaktive Sauerstoffverbindungen zu bilden.
Doch damit nicht genug: Die Forscher gehen sogar davon aus, dass die gleichen photochemischen Reaktionen auch in anderen Feinstaubpartikeln ablaufen, die nicht mit organischen und Eisenverbindungen ausgestattet sind. „Wir vermuten sogar, dass nahezu alle Schwebeteilchen in der Luft auf diese Weise zusätzliche Radikale ausbilden“, sagt Alpert. „Wenn sich dies in weiteren Studien bestätigt, müssen wir dringend unsere Modelle und Grenzwerte bezüglich der Luftqualität anpassen. Womöglich haben wir hier einen zusätzlichen Faktor dafür gefunden, dass so viele Menschen scheinbar ohne konkreten Anlass an Atemwegserkrankungen oder Krebs erkranken.“
Immerhin haben die ROS auch ihr Gutes, wie die Studie ebenfalls nahelegt: Sie greifen nämlich auch Bakterien, Viren und andere Pathogene an, die auf Aerosolen sitzen, und machen diese unschädlich. Dieser Zusammenhang könnte vielleicht erklären, warum das Sars-CoV-2-Virus in der Luft bei Raumtemperatur und mittlerer Feuchte am kürzesten überlebt.
Originalveröffentlichung: Peter A. Alpert, Jing Dou, Pablo Corral Arroyo, Frederic Schneider, Jacinta Xto, Beiping Luo, Thomas Peter, Thomas Huthwelker, Camelia N. Borca, Katja D. Henzler, Thomas Schaefer, Hartmut Herrmann, Jörg Raabe, Benjamin Watts, Ulrich K. Krieger, Markus Ammann: Photolytic Radical Persistence due to Anoxia in Viscous Aerosol Particles, Nature Communications, 19.03.2021; DOI: 10.1038/s41467-021-21913-x
* J, Berndorff, Journalistenbüro Schnittstelle, 10823 Berlin
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