Roaming in Aminosäure Atome auf Abwegen: Besondere Umlagerung in Biomolekül
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Es ist so, als würde sich bei uns plötzlich ein Finger lösen und am Fuß wieder anwachsen: Roaming ist ein besonderer Umlagerungsprozess in Molekülen, in dem ein einzelnes Atom seinen Ort wechselt. Nun haben Forscher dieses Phänomen erstmals bei einem Biomolekül mithilfe von maschinellem Lernen nachgewiesen.

Wien/Österreich – Roaming ist ein Phänomen unter Reaktionsdynamiken von Molekülen, welches kürzlich erstmals direkt beobachtet wurde. Dabei löst sich ein Atom eines Moleküls, wandert um das Molekül herum und lagert sich an einer anderen Stelle wieder an. Nun ist es theoretischen Chemikern um Philipp Marquetand von der Universität Wien gelungen, dieses Roaming bei der Aminosäure Tyrosin nachzuweisen, einem wichtigen körpereigenen Baustein von Peptiden und Proteinen.
Unbekannte Lichtspiele in Tyrosin
Das ursprüngliche Ziel war es, die noch relativ unbekannte Photochemie von Tyrosin mithilfe von künstlicher Intelligenz zu untersuchen. Tyrosin kommt in fast allen Proteinen vor und ist unter den 21 beim Menschen vorkommenden Aminosäuren eine der wenigen, die Sonnenlicht absorbieren und photochemisch umwandeln kann. Körpereigene Prozesse wie die Hautalterung oder die Augenkrankheit Grauer Star hängen z. B. mit einer durch Licht ausgelösten Zersetzung und Fragmentierung von Tyrosin zusammen.
Die Analyse von Tyrosin bzw. seiner Veränderungen in der Wechselwirkung mit Licht ist eine besondere Herausforderung, denn über einzelne Rechenmethoden lassen sich nur verschiedene Teile der Molekülstrukturen von Tyrosin beschreiben. „Wir mussten einen Weg finden, die uns zur Verfügung stehenden Methoden zu kombinieren“, sagt Erstautorin Julia Westermayr, die kürzlich ihre Doktorarbeit an der Universität Wien abgeschlossen hat. Deshalb nutzen die Forscher künstliche neuronale Netze, um das Molekül in seiner Gesamtheit zu erfassen. „Die über quantenchemische Rechnungen auf Supercomputern generierten, verschiedenen Trainingsdaten wurden von unserem neuronalen Netz zusammengesetzt und damit waren die Bewegungen von Tyrosin nach photochemischer Anregung in alle Richtungen nachvollziehbar“, erklärt die Chemikerin.
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Reaktionen schrittweise fotografieren
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„Wie eine Fliege, die ums Pferd schwirrt“
Dabei zeigten die Simulationen an Superrechnern etwas Unerwartetes: Die Forscher wiesen das so genannte Roaming nach. „Nach dem Auftreffen von Licht löst sich unerwartet ein Atom von Tyrosin, fliegt los, und umrundet den Rest des Tyrosin-Moleküls eine Zeit lang, wie eine Fliege, die um ein Pferd schwirrt, bevor es sich wieder unerwartet anhängt – mit dem Ergebnis, dass so auch Energie transferiert und neue Wechselwirkungen ausgelöst werden, die man so nicht erwarten konnte“, sagt Studienleiter Marquetand.
Roaming wurde erstmals 2004 in Formaldehyd-Molekülen entdeckt. Im Jahr 2020 beobachteten Forscher erstmals in Echtzeit eine Roaming-Reaktion, initiiert durch UV-Licht, ebenfalls bei Formaldehyd. Die aktuelle Studie belegt nun Roaming bei Tyrosin – und damit erstmals bei einem Biomolekül.
Die Berechnungen der theoretischen Chemiker passen hervorragend zu den experimentellen Ergebnissen zu Tyrosin. Hier reichte bisher die zeitliche Auflösung nicht, um Roaming bei Tyrosin im Labor zu erkennen. Die Studie zeigte zudem, dass Roaming bei Tyrosin auch die Lichtstabilität der Verbindung beeinflussen kann.
Originalpublikation: Julia Westermayr, Michael Gastegger, Dóra Vörös, Lisa Panzenboeck, Florian Joerg, Leticia González und Philipp Marquetand: Deep learning study of tyrosine reveals that roaming can lead to photodamage, Nature Chemistry, 2022; DOI: 10.1038/s41557-022-00950-z
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