Retrosynthese Chemische Synthese mit künstlicher Intelligenz
Selbst die weltbesten Spieler des chinesischen Brettspiels Go haben keine Chance mehr gegen die Software „Alpha Go“. Ein Forscherteam von der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (WWU) zeigt nun, dass dieses Programm auch bei der effizienten Planung von chemischen Synthesen unschlagbar ist.
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Münster — Die Retrosynthese ist die Königsdisziplin der organischen Chemie. Chemikerinnen und Chemiker brauchen Jahre, um sie zu meistern — ähnlich wie bei Schach und Go. Neben purem Fachwissen braucht man auch ein gutes Maß an Intuition und Kreativität dafür. Bislang ging man davon aus, dass Computer nicht mithalten können, ohne dass Experten Zehntausende von Regeln per Hand einprogrammieren. Die Forscher der WWU haben gezeigt, dass die Maschine die Regeln und ihre Anwendungen selbstständig aus der Literatur lernen kann.
Die Retrosynthese ist die Standardmethode, um die Herstellung chemischer Verbindungen zu konzipieren. Das Prinzip: Die Verbindung wird gedanklich rückwärts in immer kleinere Bausteine zerlegt, bis man Grundbausteine erhält. Diese Analyse liefert quasi das Kochrezept, das dann im Labor durchgeführt wird, um das Zielmolekül ‚vorwärts‘ herzustellen, ausgehend von den Grundstoffen. Was konzeptuell einfach ist, birgt in der Praxis Schwierigkeiten. Ähnlich wie beim Schach gibt es bei jedem Schritt oder Zug verschiedene Möglichkeiten, zwischen denen man sich entscheiden muss. In der Chemie jedoch gibt es noch wesentlich mehr mögliche Züge als im Schach, und das Problem ist deutlich komplexer.
Maschinelles Lernen
Hier kommt nun das neue Verfahren ins Spiel, das tiefe neuronale Netzwerke und die Monte-Carlo-Baumsuche verknüpft — eine Konstellation, die so vielversprechend ist, dass aktuell zahlreiche Wissenschaftler verschiedener Fachrichtungen sie erforschen. Bei der Monte-Carlo-Baumsuche handelt es sich um eine Methode zur Bewertung von Spielzügen: Der Computer simuliert bei jedem Zug zahlreiche Varianten, wie zum Beispiel die Partie Schach zu Ende gehen könnte. Der vielversprechendste Zug wird ausgewählt.
Analog sucht der Computer nun für die chemische Synthese möglichst gute „Züge“. Er ist außerdem in der Lage, mittels tiefer neuronaler Netzwerke zu lernen. Dazu greift der Computer auf die gesamte jemals veröffentlichte chemische Fachliteratur zurück, die fast zwölf Millionen chemische Reaktionswege beschreibt. Laut Mike Preuß, Wirtschaftsinformatiker und Mit-Autor der Studie, werden die tiefen neuronalen Netzwerke genutzt, um vorherzusagen, welche Reaktionen mit einem bestimmten Molekül möglich sind. Mit der Monte-Carlo-Baumsuche könne der Computer ausprobieren, ob die vorhergesagten Reaktionen tatsächlich zum Zielmolekül führen.
30 Mal schneller als konventionelle Syntheseplanung
Die Idee, Computer zur Syntheseplanung zu nutzen, ist bereits etwa 60 Jahre alt. Wie beim Schach wurde versucht, eine große Anzahl von Regeln in den Computer einzugeben. Das hat allerdings nicht funktioniert. Chemie ist sehr komplex und im Gegensatz zu Schach oder Go mit einfachen Regeln nicht rein logisch zu erfassen. Dazu kommt, dass sich die Zahl der Veröffentlichungen neuer Reaktionen etwa alle zehn Jahre verdoppelt. Sowohl Chemiker als auch Programmierer können nicht mehr mithalten. Die Forscher brauchen die Hilfe eines ‚intelligenten‘ Computers. Das neue Verfahren sei im Vergleich zu konventionellen Syntheseplanungs-Programmen etwa 30 Mal schneller und findet mögliche Synthesewege für doppelt so viele Moleküle.
Chemiker halten die computergenerierten Synthesewege für genauso gut wie real bereits erprobte Wege, das haben die Forscher in einer Doppelblindstudie herausgefunden. Sie hoffen nun, dass Chemikerinnen und Chemiker mit dem Verfahren weniger im Labor ausprobieren müssen.
Originalpublikation: Marwin H. S. Segler, Mike Preuss and Mark P. Waller (2018): Planning Chemical Syntheses with Deep Neural Networks and Symbolic AI. Nature volume 555, pages 604–610 (29 March 2018), doi:10.1038/nature25978
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