Inonenkanal-Forschung Vollautomatisiertes Ionenkanal-Screening
Ionenkanäle sind Bestandteil jeder Zellmembran. Da sie der pharmakologische Angriffspunkt vieler Wirkstoffe sind, hat deren Screening eine große Bedeutung in der Arzneimittelforschung. Um die Kanäle zu charakterisieren, wird hauptsächlich das Patch-Clamp-Verfahren eingesetzt. Eine Automation des Verfahrens erleichtert die Ionenkanal-Forschung und sicherheitspharmakologische Studien für die Medikamenten-Entwicklung.
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Das Patch-Clamp-Verfahren wurde Anfang der siebziger Jahre von Erwin Neher, derzeit Direktor am Göttinger MPI für biophysikalische Chemie, und Bert Sakmann, Direktor der Abteilung Zellphysiologie am MPI für Medizinische Forschung in Heidelberg, entwickelt. 1991 erhielten die beiden Forscher für ihre wegweisenden Studien an Ionenkanälen und die Entwicklung der Patch-Clamp-Technik gemeinsam den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin. Das Verfahren erlaubte es erstmals, Membranflächen mit einer Größe von weniger als einem Quadratmikrometer, auch Patch genannt, zu isolieren und anhand zeitaufgelöster elektrischer Strommessungen die Aktivität einzelner Ionenkanäle der Zellmembran gezielt zu untersuchen. Die gemessenen Stromstärken liegen in einem Bereich von einigen Picoampere.
Beim klassischen Patch-Clamp-Verfahren wird eine Glaskapillare mithilfe eines Mikromanipulators auf der Zellmembran adhärenter Zellen platziert. Ein leichter Unterdruck verbindet den Rand der Pipette mit der Membran, sodass der elektrische Widerstand in diesem Übergangsbereich Werte von bis zu 100 Gigaohm (Gigaseal) annehmen kann. Anschließend wird über die mit extrazellulärer Lösung gefüllte Spitze der Glaspipette durch Druckpulse die Zelle kontrolliert einseitig aufgerissen. Man erhält einen elektrischen Zugang zum Zytosol. Die verbleibende elektrisch dichte Membranfläche wird durch Anlegen unterschiedlicher Spannungspotenziale im „Open Whole Cell“ stimuliert. Durch kontrollierte Änderungen der Membranspannung werden die Ionenkanäle in der Zellmembran aktiviert. Der dabei fließende Strom wird über einen empfindlichen Messverstärker aufgezeichnet.
Bedarf in der Pharmaforschung
Neben Rezeptoren und Enzymen gehören Ionenkanäle zu der dritten großen Gruppe von Targets für pharmakologische Wirkstoffe. Da Kalzium-, Kalium- und Natrium-Kanäle aufgrund ihrer Bedeutung für den Nervenimpuls und das Aktionspotenzial bereits in den fünfziger Jahren intensiv untersucht wurden, repräsentieren die Ionenkanäle die am besten charakterisierten Angriffspunkte potenzieller Arzneien.
Das Patch-Clamp-Verfahren gilt bei der Charakterisierung pharmakologischer Effekte auf Ionenkanäle als Goldstandard und spielt daher eine große und zunehmend wichtige Rolle bei der Entwicklung neuer Medikamente. So ist beispielsweise das Screening bestimmter Herzmuskelzell-Kanäle (hERG) gemäß FDA und EMEA-Richtlinien für die Arzneimittelsicherheit vorgeschrieben. Etwa zehn Prozent aller derzeitigen Projekte in der Pharma-Industrie basieren auf Ionenkanälen.
In seiner herkömmlichen Form ist das Patch-Clamp-Verfahren jedoch arbeits- und zeitintensiv. Es erfordert u. a. ein Mikroskop auf einem erschütterungsfrei gelagerten Arbeitsplatz, einen Mikromanipulator und manuelle Geschicklichkeit. Um dem wachsenden Bedarf an Patch-Clamp-Messungen in der Pharmaforschung erfüllen zu können, sind automatisierte Lösungen erforderlich, die reproduzierbare Ergebnisse in hohem Durchsatz erzielen können.
Vollautomatische Gerätelösung
Das 2001 gegründete Unternehmen Flyion bietet eine vollautomatisierte Patch-Clamp-Gerätelösung, die zur Charakterisierung von Ionenkanälen, zum Wirkstoff-Screening und für sicherheitspharmakologische Studien eingesetzt werden kann.
Der Patch-Clamp-Roboter Flyscreen 8500 basiert aus flyions Flip-the-Tip-Verfahren und übernimmt sowohl den Prozess der Abdichtung und Öffnung der Zellmembran (whole-cell break-in) als auch die Handhabung von Messpipetten, Lösungen und Testsubstanzen sowie die Druckkontrolle vollautomatisch (s. Abb. 1). An mehreren unabhängigen Messplätzen werden die Messungen asynchron und parallel durchgeführt. Dadurch lassen sich täglich Hunderte von Analysen durchführen.
Das System ermöglicht schnelles und skalierbares Screening von sowohl ligandenaktivierten als auch spannungsabhängigen Ionenkanälen einschließlich hERG. Flyscreen 8500 verwendet Messpipetten aus Glas, wodurch unspezifisches Binden verhindert wird. Um das automatische Handling beim Auswechseln und Befüllen der Messpipetten zu erleichtern, sind die Pipetten in eine Kunststoffhülle eingebettet.
Flip-the-Tip Verfahren
Das Flip-the-Tip-Verfahren kehrt den klassischen Patch-Clamp-Versuchsansatz um (s. Abb. 2). Im Gegensatz zum herkömmlichen Verfahren werden die Tips automatisch mit der Zellsuspension durchspült, sodass sich eine einzelne Zelle in die untere Öffnung der Kapillare setzen kann (Gigaseal). Die Zellmembran wird durch Saugpulse geöffnet oder durch porenbildende Substanzen wie Amphotericin perforiert. In diesem Zustand entstehen stabile Ganzzell-Konfigurationen mit Widerständen, die mit denen in konventionellen Verfahren vergleichbar sind.
Testsubstanzen können vollautomatisch ein- oder ausgespült werden, sodass die extrazelluläre Membranoberfläche direkt erreichbar ist und das benötigte Volumen der Testlösung unterhalb von zehn Mikrolitern liegt.
Die Technik hat sich in kürzester Zeit in der Pharmaforschung etabliert und lieferte u.a. die experimentelle Basis des Blue Brain-Projekts, ein großangelegtes Computermodell zum Verständnis der Funktionsweise des Gehirns.
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