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Einzeller mit „Erinnerungsvermögen“ Wer braucht schon Hirn? – Entscheidungsfindung bei Schleimpilzen

Redakteur: Christian Lüttmann |

Der Schleimpilz hat als Einzeller weder Gehirn noch Nervensystem – und kann sich dennoch „klug“ verhalten. So haben Forscherinnen des Max-Planck-Instituts für Dynamik und Selbstorganisation (MPI-DS) gezeigt, wie Schleimpilze sogar eine Art Erinnerung an vergangene Nahrungsfunde in ihrem Netzwerk aus Röhren speichern können und in spätere „Entscheidungen“ miteinbeziehen.

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Der Schleimpilz Physarum polycephalum besteht aus einer einzigen biologischen Zelle. Wegen seiner Fähigkeiten, sein röhrenförmiges Netzwerk an eine sich ändernde Umgebung anzupassen, wird er als „intelligent“ bezeichnet.
Der Schleimpilz Physarum polycephalum besteht aus einer einzigen biologischen Zelle. Wegen seiner Fähigkeiten, sein röhrenförmiges Netzwerk an eine sich ändernde Umgebung anzupassen, wird er als „intelligent“ bezeichnet.
(Bild: Nico Schramma / MPI-DS)

München – Wenn wir uns an vergangene Ereignisse erinnern, können wir klügere Entscheidungen für die Zukunft treffen. Diese Fähigkeit, Informationen zu speichern und abzurufen, verschafft einem Organismus einen Vorteil bei der Nahrungssuche oder bei der Vermeidung von Gefahren. Bislang wird sie aber nur mit Organismen in Verbindung gebracht, die ein Nervensystem besitzen. Doch das ist gar nicht notwendig.

Auch der einzellige Schleimpilz Physarum polycephalum hat eine Art Erinnerungsvermögen entwickelt und speichert damit Informationen über seine Umgebung, wie Mirna Kramar und Prof. Karen Alim vom Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation (MPI-DS) in einer nun veröffentlichten Studie herausfanden.

Ein Gedächtnis ohne Gehirn

Der Schleimpilz Physarum polycephalum fasziniert Forschende seit Jahren. Dieser einzigartige Organismus, der sich einer Zuordnung in die klassischen Reiche von Tieren, Pflanzen und Pilzen verwehrt, bietet Einblicke in die frühe Evolutionsgeschichte der Eukaryonten, zu denen auch wir Menschen gehören. Sein Körper ist eine riesige Einzelzelle, die aus miteinander verbundenen Röhren besteht. Sie bilden ein Netzwerk, das mehrere Zentimeter oder sogar Meter groß werden kann, was ihm im Guinness-Buch der Rekorde den Titel als größte Zelle der Erde einbrachte.

Die Fähigkeit, sein röhrenförmiges Netzwerk an eine sich ändernde Umgebung anzupassen, brachte ihm das Attribut „intelligent“ ein. Er nutzt dieses Netzwerk als eine Art Gedächtnis – auch ohne über ein Nervensystem oder ein organisierendes Zentrum zu verfügen.

Netzwerk aus Erinnerungen

Wie die beiden Forscherinnen herausfanden, webt der Organismus Erinnerungen an Nahrungsorte direkt in die Architektur des netzwerkartigen Körpers ein und nutzt die damit gespeicherten Informationen bei zukünftigen Entscheidungen. Sie verfolgten die Fortbewegung und die Nahrungsaufnahme des Organismus, wobei sie sie einen deutlichen Abdruck der Nahrungsquellen im Muster der dickeren und dünneren Röhren des Netzwerks fanden, der auch lange nach der Nahrungsaufnahme noch zu erkennen war.

„Angesichts der schnellen Reorganisation des Netzwerks von P. polycephalum, weckte die Persistenz dieses Abdrucks bei uns die Idee, dass die Netzwerkarchitektur selbst als Gedächtnis der Nahrungsorte dienen könnte“, sagt die MPI-Forscherin Alim, die auch an der TU München lehrt. „Allerdings mussten wir zunächst den Mechanismus entschlüsseln, der hinter der Bildung der Netzwerkmusters steckt.“

Ein Weichmacher hilft bei der Neuausrichtung

Um hinter die Entstehung dieser Erinnerungsspuren im Schleimpilznetzwerk zu kommen, kombinierten die Forscherinnen mikroskopische Beobachtungen mit theoretischer Modellierung. Kommt P. polycephalum mit Nahrung in Kontakt, wird im Inneren der Zelle eine Chemikalie freigesetzt, die sich vom Fundort der Nahrung durch den gesamten Organismus bewegt und die Röhren im Netzwerk weicher macht, sodass sich der Organismus neu auf die Nahrung ausrichtet.

Für die nun transportierte Weichmacher-Chemikalie wirken die dicken Röhren im Netzwerk wie Autobahnen im Verkehrsnetz und ermöglichen einen besonders schnellen Transport durch den gesamten Organismus. Allerdings fließen auch frühere Nahrungsorte, die in der Netzwerkarchitektur eingeprägt sind, in die Entscheidung über die künftige Bewegungsrichtung mit ein, wie die Forscherinnen herausfanden.

Wie ein Schleimpilz sein Nahrungsnetzwerk aufbaut – und was das mit der U-Bahn in Tokio zu tun hat –, zeigt dieses Video der BBC:

Einfacher Mechanismus mit großer Wirkung

Die Fähigkeit des Schleimpilzes, etwas vergleichbares wie Erinnerungen zu bilden, erstaunte die Forscherinnen. „Es ist bemerkenswert, dass der Organismus einen so einfachen Mechanismus verwendet und ihn dennoch auf so fein abgestimmte Weise kontrolliert“, sagt Alim. „Das stellt ein wichtiges Puzzlestück zum Verständnis des Verhaltens dieses uralten Organismus dar und weist darauf hin, dass dem Verhalten von Lebewesen universelle Prinzipien zugrunde liegen.“

Die Forscherinnen sehen mögliche Anwendungen dieser Erkenntnisse bei der Entwicklung von intelligenten Materialien und dem Bau von weichen Robotern, die selbstständig durch komplexe Umgebungen navigieren können.

Originalpublikation: Mirna Kramar and Karen Alim: Encoding memory in tube diameter hierarchy of living flow network, PNAS March 9, 2021 118 (10); DOI: 10.1073/pnas.2007815118

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