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Der thermische Kortex Wo passiert das Wärme- und Kälteempfinden im Gehirn?

Quelle: Pressemitteilung Max-Delbrück-Center

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Woher wissen wir, ob etwas warm oder kalt ist? Das Zentrum von Temperaturwahrnehmung im Gehirn war lange Zeit ein Rätsel. Nun haben Forscher den „thermischen Kortex“ lokalisiert und gezeigt, wie unterschiedlich die Wahrnehmung von Wärme und Kälte ablaufen.

Epifluoreszenzbild der hinteren Inselrinde der Maus, wo Forscher den „thermischen Kortex“ verorten: Die Neuronen exprimieren ein kalziumempfindliches Protein grün und einen allgemeinen neuronalen Marker rot.
Epifluoreszenzbild der hinteren Inselrinde der Maus, wo Forscher den „thermischen Kortex“ verorten: Die Neuronen exprimieren ein kalziumempfindliches Protein grün und einen allgemeinen neuronalen Marker rot.
(Bild: Mikkel Vestergaard, AG Poulet, Max Delbrück Center)

Ein heißer Kaffee, eine kalte Limonade – die Temperatur von Objekten wahrnehmen zu können, ist eine der zentralen Aufgaben unserer Sinne und war in der Evolution überlebenswichtig. Seit fast 100 Jahren haben Wissenschaftler versucht, diese Fähigkeit im Gehirn zu lokalisieren. Manche haben vermutet, dass es eine bestimmte Region im Hirn gibt, die mit dieser Aufgabe betraut ist: einen „thermischen Kortex“. Doch ob so ein spezielles Zentrum existiert, war umstritten – bis jetzt. Denn Forscher des Max Delbrück Center (MDC) haben im Gehirn von Mäusen nun tatsächlich einen „thermischen Kortex“ identifiziert und Nervenzellen gefunden, die Kälte oder Wärme registrieren.

„Das Gehirn und seine Funktionsweise zu verstehen, gehört zu den ganz großen Fragen der Wissenschaft. Die sensorische Wahrnehmung ist ein guter Ansatzpunkt, sich den Antworten zu nähern“, sagt Professor James Poulet, Neurowissenschaftler am MDC und an der Charité – Universitätsmedizin Berlin. Er hat die Studie geleitet. „Es gibt leider viele unheilbare Erkrankungen des Gehirns, und manche verändern die Sinneswahrnehmung. Was wir über die Schaltkreise des gesunden Gehirns wissen, wird auf lange Sicht dazu beitragen, dem kranken Gehirn zu helfen.“

Von Reizen zur Wahrnehmung der Umwelt

Wenn ein Mensch sich bewegt, verarbeitet das Gehirn die von den Sinnesorganen übermittelten Informationen und konstruiert daraus die bewusste Wahrnehmung der Umwelt. Das geschieht vor allem in der gefalteten äußeren Schicht des Gehirns, dem Kortex. Wenn die Haut mit Kälte in Kontakt kommt, reagieren die Neuronen im primären somatosensorischen Kortex, wie Poulet und seine Kollegen zuvor in einer Studie herausgefunden hatten. Deshalb haben sie erwartet, dass auch Wärme in dieser Region des Gehirns verarbeitet wird.

Dr. Mikkel Vestergaard und Dr. Mario Carta, beide Erstautoren des Papers und Wissenschaftler in der Arbeitsgruppe „Neuronale Schaltkreise und Verhalten“, testeten diese Hypothese bei Mäusen. Sie setzten die Vorderpfoten der Tiere milden Temperaturen aus. Mithilfe von bildgebenden Verfahren analysierten sie, welcher Teil des Gehirns auf Veränderungen der Hauttemperatur reagierte.

Thermischer Kortex lokalisiert

Das Ergebnis der Versuche überraschte die Wissenschaftler. Sie stellten fest, dass der primäre somatosensorische Kortex gar nicht auf Wärme reagierte. Stattdessen leuchteten die Neuronen in einer anderen Hirnregion auf: in der hinteren Inselrinde. „Der bisher nur schwer greifbare thermische Kortex befindet sich anscheinend in der hinteren Inselrinde, wie unsere Studie zeigt“, sagt Carta.

Um sich die Reaktionen der einzelnen Neuronen in der hinteren Inselrinde anzuschauen, nutzte das Team ein Zwei-Photonen-Mikroskop. „Manche der Neuronen antworteten nur auf Kälte, andere nur auf Wärme. Und viele reagierten auf beides“, beschreibt Vestergaard die Beobachtung.

Kälte- und Wärme-Neuronen funktionieren unterschiedlich

Die Reaktion auf Wärme und Kälte lief dabei recht unterschiedlich ab. Die für Wärme zuständigen Neuronen sprachen auf die absolute Temperatur an, während die für Kälte zuständigen Neuronen auch Temperaturunterschiede registrierten. Die Reaktionen auf Kälte waren schneller, sie ließen außerdem schneller wieder nach. „Das legt nahe, dass es unterschiedliche Signalwege für die Wahrnehmung von Kälte und Wärme gibt“, sagt Vestergaard.

Die Weitfeld-Kalzium-Bildgebung zeigt, wie der hintere Teil der Inselrinde der Maus auf kalte (l.) und warme (r.) Temperaturreize an der Vorderpfote reagiert.
Die Weitfeld-Kalzium-Bildgebung zeigt, wie der hintere Teil der Inselrinde der Maus auf kalte (l.) und warme (r.) Temperaturreize an der Vorderpfote reagiert.
(Bild: Mikkel Vestergaard, AG Poulet, Max Delbrück Center)

Um zu beweisen, dass die Inselrinde für die Temperaturwahrnehmung unentbehrlich ist, trainierten die Wissenschaftler Labormäuse so, dass sie kühle oder warme Temperaturen mit ihrem Verhalten anzeigten. Das Team nutzte Optogenetik, um die Inselrinde vorübergehend „auszuschalten“, während die Mäuse dem jeweiligen Reiz ausgesetzt waren. „In diesen Fällen haben die Mäuse den Temperaturreiz nicht mehr gefühlt“, sagt Poulet. Sobald die Inselrinde wieder normal reagieren konnte, empfanden die Mäuse auch wieder Wärme oder Kälte.

Der Weg ist das Ziel

Künftig will das Team um Poulet den ganzen Weg der Temperatur von der Haut über das Rückenmark in den Thalamus und schließlich zum Kortex analysieren. „Wir wollen wissen, wo und wie die Informationen zur Temperatur an den unterschiedlichen Stationen repräsentiert sind. Und wie sie sich entlang des Weges verändern“, sagt er.

Sie werden sich auch einem größeren Rätsel zuwenden, das sich aus dieser Studie ergeben hat: Warum reagiert der primäre somatosensorische Kortex auf Kälte, aber nicht auf Wärme? Eine These ist, dass diese Region eher für die Wahrnehmung komplexer Texturen zuständig ist – zum Beispiel, wenn sich etwas klamm, glatt oder metallisch anfühlt. „Vielleicht helfen Informationen über Kälte, komplexe Oberflächenstrukturen zu unterscheiden“, sagt Poulet. „Wir brauchen mehr Versuche, um das wirklich zu verstehen. Es ist faszinierend, aber noch recht unklar.“ (clu)

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Originalpublikation: Mikkel Vestergaard, Mario Carta et al.: The cellular coding of temperature in the mammalian cortex, Nature 614, pages 725–731 (2023); DOI: 10.1038/s41586-023-05705-5

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