Europas Weg aus der Laktoseintoleranz Die noch junge Erfolgsgeschichte der Milchverträglichkeit
Trinken Sie gerne Milch? Nicht jedem ist dies vergönnt; viele Menschen bekommen davon Verdauungsprobleme. Tatsächlich stellt Laktoseintoleranz bei Erwachsenen eigentlich den Normalzustand dar. Nur in manchen Teilen der Welt wie in Europa hat sich die „Milchverträglichkeit“ in den Genen durchgesetzt – und das erst vor wenigen tausend Jahren und mit rasanter Geschwindigkeit. Palaeogenetiker aus Mainz und Freiburg in der Schweiz haben dies nun mit Genanalysen auf einem erst 3000 Jahre alten Schlachtfeld belegt.
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Mainz, Freiburg/Schweiz – Milch ist das erste, was wir und alle anderen Säugetiere im Leben zu uns nehmen. Normalerweise vergeht nach dem Säuglingsalter der Appetit darauf, weil die Fähigkeit zum Abbau des enthaltenen Milchzuckers zurückgeht. Das, was unter Menschen heute als Laktoseintoleranz bekannt ist, stellt also eigentlich den Normalzustand dar.
Nur dank einer Mutation ist es vielen Menschen heute möglich, auch im Erwachsenenalter ein Glas Milch zu trinken, ohne davon Verdauungsprobleme zu bekommen. Dabei gibt es geographisch drastische Unterschiede: Während in Europa Milchunverträglichkeit eher die Ausnahme darstellt, vertragen in weiten Teilen Afrikas und Ostasiens 65 bis über 90% der Menschen keine Milch.
Milchverträglichkeit vor 3000 Jahren
Dabei ist die menschliche Fähigkeit, auch nach dem Säuglingsalter Milch verdauen zu können, noch vergleichsweise neu: Sie hat sich in Mitteleuropa in nur wenigen Tausend Jahren verbreitet. Das zeigen Ergebnisse eines internationalen Forscherteams unter Leitung der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU).
Die Wissenschaftler hatten das Erbgut in Knochen von Menschen untersucht, die rund 1200 v. Chr. in der Schlacht an der Tollense gefallen waren, einem Fluss im heutigen Mecklenburg-Vorpommern. Unter den vermeintlichen Kriegern hatte nur etwa jeder achte eine Genvariante, die es ihm ermöglichte, Laktose zu spalten und damit Milch zu verdauen. „Von der heutigen Bevölkerung desselben Gebiets verfügen 90% über dieses Merkmal, die so genannte Laktasepersistenz“, sagt der Erstautor der Studie, Populationsgenetiker Prof. Dr. Joachim Burger von der JGU. „Dieser Unterschied ist enorm, wenn man bedenkt, dass nicht viel mehr als 120 Menschengenerationen dazwischenliegen.“ Bis auf die seltenere Ausprägung der Genvariante sei das Erbgut der Tollense-Leute ähnlich dem heutiger Bewohner Norddeutschlands und des Ostseeraums.
Rasante Evolution
Für die Ergebnisse der genetischen Analyse sehen die Wissenschaftler nur eine Erklärung. „Die einzige Möglichkeit, den Unterschied zwischen Bronzezeit und heute zu erklären, ist starke darwinische Selektion“, meint Prof. Dr. Daniel Wegmann, Biologe an der Universität Freiburg in der Schweiz, der ebenfalls an der Studie beteiligt war. „Wir schließen daraus, dass laktasepersistente Individuen im Verlauf der letzten 3000 Jahre mehr Kinder bekommen haben, beziehungsweise dass diese Kinder bessere Überlebenschancen hatten als jene ohne dieses Merkmal.“
Die Forscher errechnen einen erstaunlichen Selektionsvorteil: „Auf 100 Nachkommen ohne kommen in jeder Generation 106 Nachkommen mit Laktasepersistenz. Damit ist das entsprechende Gen das am stärksten positiv selektierte im ganzen menschlichen Genom“, erklärt Studienleiter Burger.
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Fast jede fünfte Probe belastet
Keimschleuder Milchshake?
Vorteil durch Milchtrinken
Bereits im Jahr 2007 hatten Burger und sein Team nachgewiesen, dass nahezu keiner der ersten sesshaften Bauern Europas laktasepersistent waren. „Und es ist erstaunlich, dass zur Zeit des Konflikts an der Tollense, mehr als 4000 Jahre nach der Einführung der Landwirtschaft in Europa, die Milchverträglichkeit bei Erwachsenen immer noch so selten war“, sagt Burger.
Es bleibe außerdem die Frage, welchen evolutiven Vorteil es hatte, auch nach dem Säuglingsalter Milch trinken zu können. Hierauf gebe es noch keine eindeutige Antwort. „Jedoch könnte Milch als energiereiche, unkontaminierte Flüssigkeit in Zeiten von Nahrungsmangel oder verseuchtem Trinkwasser höhere Überlebenschancen geboten haben. Gerade in der frühen Kindheit, also in den Jahren nach dem Abstillen, mag das in prähistorischen Populationen immer wieder entscheidend gewesen sein“, vermutet der Forscher.
Für die Studie haben die Wissenschaftler zum Vergleich auch das Erbgut in bronzezeitlichen Knochen aus Ost- und Südosteuropa analysiert. Auch dort fanden sie ähnlich selten Hinweise auf Laktasepersistenz. In den untersuchten Knochen von Individuen aus den osteuropäischen Steppen, wo frühere Studien den Ursprung der adulten Laktasepersistenz vermutet hatten, fehlt das Merkmal sogar völlig.
Originalpublikation: J. Burger et al: Low prevalence of lactase persistence in Bronze Age Europe indicates ongoing strong selection over the last 3,000 years, Current Biology, 3. September 2020,
DOI:10.1016/j.cub.2020.08.033
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