Zeitumstellung Sommerzeit für immer – ein Alptraum für Chronobiologen
Eine Stunde vor, eine Stunde zurück. Die Zeitumstellung geht vielen auf die Nerven – und einigen sogar aufs Gemüt, etwa in Form von Schlafproblemen. Sollte sie wirklich abgeschafft werden, droht aber die nächste Gefahr: Die von vielen favorisierte dauerhafte Sommerzeit. Chronobiologen halten das für eine schlechte Idee, und plädieren stattdessen für eine Rückkehr zur Winterzeit. Aber warum?
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Würzburg – Am letzten Märzwochenende ist es wieder so weit, Deutschland stellt die Zeitfrage: vor oder zurück? Seit 1980 gibt es zweimal im Jahr den „Zeitsprung“ von einer Stunde. Was uns in der Märznacht „geklaut“ wird, bekommen wir dafür im Oktober wieder zurück. Die Folgen sind halbjährliche Verwirrung sowie ein Aufhänger für Streitgespräche am Frühstückstisch: Wozu der ganze Aufwand? Ist dieses hin und her wechseln nicht sogar schlecht für uns? Warum ist die Zeitumstellung nicht längst abgeschafft?
Ende der Zeitumstellung bleibt strittig
Tatsächlich hatte sich 2018 etwas getan. Das EU-Parlament hatte eine europaweite Umfrage gestartet, bei der die deutliche Mehrheit für ein Ende der Zeitumstellung stimmte [1]. 80 Prozent der viereinhalb Millionen Teilnehmer waren sich einig, dass die Zeit der Umstellung vorbei sein müsse, und der damalige EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker versprach, diesem Signal zu folgen und die Zeitumstellung bis Ende 2021 abzuschaffen.
Doch die Chancen, dass Europa in diesem Jahr wirklich das letzte Mal an der Uhr dreht, scheinen gering. Unter anderem, weil ein Streitpunkt noch immer nicht geklärt: Welche Zeit wird bleiben?
Ewige Sommerzeit – alles andere als ein „Gute Laune“-Garant
In stichprobenartigen Umfragen scheint die Antwort klar zu sein: Die meisten Deutschen wünschen sich die ewige Sommerzeit. Viele Wissenschaftler sehen das allerdings kritisch und warnen vor negativen Folgen für die Gesundheit.
Doch was soll so schlimm sein, wenn die Sommerzeit die neue Standardzeit wäre? Das Problem ist der Unterschied zwischen der offiziellen Uhrzeit und der natürlichen Tageszeit. Schon in der Winterzeit hinkt der Sonnenhöchststand unserer Zeit hinterher: Die Sonne steht erst rund 30 Minuten nach 12 am Zenit. In der Sommerzeit kommt noch eine Stunde „Verspätung“ dazu. Dann läuft unser Alltag sozusagen eineinhalb Stunden am tatsächlichen Tagesverlauf vorbei. Das kann auf Dauer die innere Uhr durcheinanderbringen, die Stimmung trüben und sogar krank machen.
Sozialer Jetlag als Dauerzustand
Wie sich Tag-Nacht-Rhythmen und Störeffekte wie Zeitverschiebung oder auch Lichtverschmutzung auf den zirkadianen Rhythmus unseres Körpers auswirken, untersuchen Chronobiologen wie Prof. Till Roenneberg von der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Er ist einer der Experten, die vor der „ewigen Sommerzeit“ warnen. Denn eine ganzjährige Sommerzeit würde zu einem dauerhaften „sozialen Jetlag“ führen, also zu eben jener größeren Diskrepanz zwischen innerer Uhr und offizieller Tageszeit. Schon innerhalb einer Zeitzone seien gesundheitliche Auswirkungen dieses Phänomens nachweisbar, wie Roenneberg in einem Interview mit dem Tagesspiegel erklärt [2]. So nimmt etwa das Krebsrisiko von Ost nach West zu, weil im Westen die „Verspätung“ des Sonnenhöchststandes etwas größer ist als im Osten [3-5].
Und auch Schlafstörungen, Depressionen und Stoffwechselstörungen wie Fettleibigkeit und Diabetes treten vermehrt auf. Mit jeder Stunde sozialem Jetlag verdreifache sich das Risiko, an Stoffwechselsyndromen zu erkranken, schätzt der Chronobiologe. Die Abweichung zwischen äußerer und innerer Zeit seien auch ein Grund, warum fielen Menschen das Aufstehen morgens besonders schwerfalle. „Sobald Sie einen Wecker zum Aufstehen brauchen, wissen Sie, dass die Körperuhr nicht mehr mit der sozialen Uhr übereinstimmt. Sie leben dann im sozialen Jetlag“, sagt Roenneberg im Tagesspiegel-Interview.
Das Sommerzeit-Experiment in Russland
In Russland hat man die negativen Folgen einer ganzjährigen Sommerzeit bereits erlebt. Fast vier Jahre lang ließ man dort die Uhren um eine Stunde zurückgestellt. In manchen Regionen ging die Sonne damit erst gegen 10 Uhr vormittags auf, die Menschen klagten vermehrt über Schlafstörungen und Unwohlsein [6].
Ähnliches befürchtet Roenneberg auch für Deutschland, wenn hier die Sommerzeit ganzjährig eingeführt würde. Damit würde am kürzesten Tag des Jahres der Sonnenaufgang ganz im Westen, etwa in Aachen, erst gegen 9:30 Uhr beginnen. Wenn tatsächlich die dauerhafte Sommerzeit in Deutschland eingeführt wird, wären wir wohl Teil eines großen chronobiologischen Experiments. Der Ausgang ist für Roenneberg allerdings schon klar: Spätestens nach ein paar Jahren würde jeder merken, dass die Sommerzeit auf Dauer nicht funktioniert.
Ende offen
Russland hat diesen Selbstversuch 2014 beendet, und ist zurück zur dauerhaften Standardzeit (also der Winterzeit) gewechselt. Ob das aber die Lösung ist, bleibt abzuwarten. Denn nun macht einigen Menschen das andere Extrem zu schaffen: der frühe Sonnenaufgang im Sommer, teilweise schon um vier Uhr.
Vielleicht ist der Zeitenwechsel zwischen Sommer und Winterzeit am Ende also doch das kleinere Übel? Zwar wird die Zeitumstellung mit Schlafproblemen, Konzentrationsschwierigkeiten und sogar erhöhtem Herzinfarktrisiko in Verbindung gebracht (s. Bildergalerie), doch sind diese Effekte nach einigen Tagen oder spätestens Wochen größtenteils verschwunden. Die dauerhafte Sommerzeit würde den Körper hingegen auf eine langfristige Belastungsprobe stellen, ist sich Chronobiologe Roenneberg sicher. Momentan sieht es aber ohnehin so aus, als würde die versprochene Abschaffung der Zeitumstellung noch auf sich warten lassen. Denn die Streitfrage, welche Zeit dann die neue Standardzeit bleiben soll, bleibt aus politischer Sicht noch unbeantwortet. Immerhin hat man dann weiterhin zweimal im Jahr ein kontroverses Gesprächsthema am Frühstückstisch.
Zumindest eine Frage lässt sich aber leicht beantworten – besonders, wenn bald die Außengastronomie wieder ihre Arbeit aufnehmen kann. Wenn es heißt „Uhr vor- oder zurückstellen?“, hilft nämlich folgende Eselsbrücke: Die Uhr wird so gestellt, wie die Stühle im Biergarten: Im Sommer vor (das Restaurant) und im Winter zurück (ins Lager).
Quellen:
- [1] Konsultation zur Sommerzeit, Europäische Kommission, 31.8.2018
- [2] Chronobiologe zur dauerhaften Sommerzeit, Tagesspiegel, 29.03.2019
- [3] Fangyi Gu, Shangda Xu, Susan S. Devesa, Fanni Zhang, Elizabeth B. Klerman, Barry I. Graubard and Neil E. Caporaso: Longitude Position in a Time Zone and Cancer Risk in the United States, Cancer Epidemiology, Biomarkers & Prevention, August 2017 Volume 26, Issue 8 DOI: 10.1158/1055-9965.EPI-16-1029
- [4] Trang VoPham, Matthew D. Weaver, Céline Vetter, Jaime E. Hart, Rulla M. Tamimi, Francine Laden and Kimberly A. Bertrand: Circadian Misalignment and Hepatocellular Carcinoma Incidence in the United States, Cancer Epidemiology, Biomarkers & PreventionJuly 2018, Volume 27, Issue 7, DOI: 10.1158/1055-9965.EPI-17-1052
- [5] Mikhail F. Borisenkov: Latitude of Residence and Position in Time Zone are Predictors of Cancer Incidence, Cancer Mortality, and Life Expectancy at Birth, The Journal of Biological and Medical Rhythm Research, Volume 28, 2011 - Issue 2 DOI:10.3109/07420528.2010.541312
- [6] Zeitumstellung in Russland, tagesschau.de, 16.08.2018
- [7] Pia Christ, Anna Sergeevna Sowa, Oren Froy, and Axel Lorentz: The Circadian Clock Drives Mast Cell Functions in Allergic Reactions, Front Immunol. 2018; 9: 1526. Published online 2018 Jul 6. DOI: 10.3389/fimmu.2018.01526
- [8] Joanna E.Long et al.: Morning vaccination enhances antibody response over afternoon vaccination: A cluster-randomised trial, Vaccine, Volume 34, Issue 24, 23 May 2016, Pages 2679-2685, DOI: 10.1016/j.vaccine.2016.04.032
- [9] Nathaniel P. Hoyle et al.: Circadian actin dynamics drive rhythmic fibroblast mobilization during wound healing, Science Translational Medicine 08 Nov 2017: Vol. 9, Issue 415, eaal2774, DOI: 10.1126/scitranslmed.aal2774
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