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Adenoviren binden gezielt an Strukturen auf Tumorzellen Viren als Wirkstoffvehikel gegen Krebs?

Autor / Redakteur: Janna Eberhardt* / Christian Lüttmann

Zielsystem für Tumorbekämpfung? Tübinger Forscher haben einen speziellen Andockmechanismus von Adenoviren entdeckt, der auch für die Krebsbehandlung relevant sein könnte.

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Modell des Knopfes des kurzen Faserproteins des Adenovirus 52 (weiß) mit der Anheftung an Polysialinsäure (grün-rot); die feinen Striche deuten die elektrischen Feldlinien an.
Modell des Knopfes des kurzen Faserproteins des Adenovirus 52 (weiß) mit der Anheftung an Polysialinsäure (grün-rot); die feinen Striche deuten die elektrischen Feldlinien an.
(Bild: Manuel Liaci)

Tübingen – Viren nutzen zur Vermehrung die Lebensfunktionen ihrer Wirte aus – doch dafür müssen sie zunächst in deren Zellen gelangen. Damit dies gelingt, heften sich die Viren in einem ersten Schritt an die Wirtszelle. Wie dieses Andocken genau funktioniert, haben Wissenschaftler der Universität Tübingen unter Leitung von Professor Thilo Stehle gemeinsam mit Kollegen der Universität Umeå an einem Typ von Adenoviren untersucht.

Die Forscher entdeckten, dass die Adenoviren über einen bisher unbekannten Mechanismus an ungewöhnliche Zuckerstrukturen auf der Oberfläche der Wirtszellen binden, an die sogenannten Polysialinsäuren. Das Besondere: Diese Polysialinsäuren kommen hauptsächlich auf Zellen von Hirn- und Lungentumoren vor. Daher würde sich das Adenovirus möglicherweise für eine zielgerichtete Tumortherapie eignen, bei der die Viren als Vehikel für eine Gentherapie an die Tumorzellen andocken und diese von innen heraus zerstören.

Kurze Faserproteine als Enterhaken

Ein Adenovirus besteht aus einem DNA-Doppelstrang, der in eine zwanzigseitige, hochsymmetrische Proteinkapsel, eingeschlossen ist. In der Kapsel sind längliche Faserproteine als Anhänge verankert. Das Leipziger Forschungsteam hat einen Virentyp untersucht, der sowohl mit einem langen als auch einem kurzen Faserprotein ausgestattet ist. Nur drei von über fünfzig Adenovirentypen weisen dieses Merkmal auf.

Die Wissenschaftler legten besonderes Augenmerk auf das kürzere Faserprotein. „Es verbreitert sich nach außen in eine knopfartige Struktur“, sagt Stehle. „Wir haben festgestellt, dass dieser Knopf lange Ketten der Polysialinsäure erkennt.“ Der untersuchte Virentyp Adenovirus 52 könne die Polysialinsäure als Rezeptor nutzen und sich so an die Zelle anheften, erklärt der Wissenschaftler. „Das wurde zuvor noch nicht beobachtet, und über die molekulare Erkennung von Polysialinsäuren ist überhaupt sehr wenig bekannt.“

Anheften über Elektrostatik

Wie das Virus sich anheftet, hat das Team um Stehle mit verschiedenen Methoden untersucht: Röntgenkristallografie, Kernspinresonanzspektroskopie, einer Simulation der molekularen Vorgänge und gezielten Mutationen der Knöpfe am kurzen Faserprotein. „Die spezifische Bindung zwischen den Knöpfen und der Polysialinsäure auf der Wirtszelle kommt auf einem ungewöhnlichen Weg durch vorübergehende elektrostatische Wechselwirkungen zustande“, erklärt Stehle. „Solche Bindungsdetails geben uns Einblick in die Evolution verschiedener menschlicher Krankheitserreger unter den Adenoviren.“

Magen-Darm-Viren gegen Krebsgeschwüre?

Die gezielte Bindung der Adenoviren an die Polysialinsäure hilft den Viren in erster Linie dabei, ihre Wirtszelle zu entern und sich dann auszubreiten, wobei sie beim Menschen unter anderem Atemwegserkrankungen und Magen-Darm-Erkrankungen verursachen. Das Verständnis des Andockmechanismus könnte aber nicht nur bei der Bekämpfung dieser von Adenoviren verursachten Krankheiten helfen.

Weil Polysialinsäuren auch auf besonders aggressiven Tumoren im Gehirn und in der Lunge entdeckt wurden, eröffnet sich möglicherweise eine gezielte Therapie gegen Krebs, wie die Forscher um Stehle vermuten: Gentechnisch bearbeitete Adenoviren könnten sich spezifisch an Krebszellen heften und diese infizieren, indem sie gezielt Gene in das Tumorgewebe einschleusen und für dessen Auflösung sorgen. Ob sich die Adenoviren aufgrund ihres besonderen Andockmechanismus tatsächlich für diese Aufgabe eignen, müssen allerdings weiterführende Studien prüfen.

Orginalpublikation: Annasara Lenman, A. Manuel Liaci, Yan Liu, Lars Frängsmyr, Martin Frank, Bärbel Blaum, Wengang Chai, Iva Podgorski, Balázs Harrach, Mária Benkõ, Ten Feizi, Thilo Stehle, Niklas Arnberg: Polysialic acid is a cellular receptor for human adenovirus 52. Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS), DOI: 10.1073/pnas.1716900115

* J. Eberhardt: Eberhard Karls Universität Tübingen, 72074 Tübingen

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