Langzeitgedächtnis von Fruchtfliegen Lernen fürs Leben: Was Fliegen über ihre Größe wissen
Fruchtfliegen wissen sehr genau, wie groß sie sind. Wie sie diese Kenntnis erlernen und wie lange das Wissen erhalten bleibt, haben nun Forscher der Johannes Gutenberg-Universität Mainz untersucht.
Anbieter zum Thema

Mainz – Um sich in ihrer Umwelt zurechtzufinden und zu überleben, müssen Tiere eine Vorstellung von ihrer eigenen Körpergröße entwickeln. Wissenschaftler der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) zeigen nun, dass die Fruchtfliege Drosophila melanogaster ein sehr stabiles Langzeitgedächtnis für die eigene Körpergröße und Reichweite der Gliedmaßen entwickelt, nachdem sie aus ihrer Verpuppung geschlüpft ist.
„Wenn das Gedächtnis einmal gefestigt ist, scheint es nach unserer Beobachtung ein Leben lang erhalten zu bleiben“, teilt Prof. Dr. Roland Strauss von der JGU mit. „Die Insekten haben sich für den Rest ihres Lebens geeicht.“
Das Körpergedächtnis der Fruchtfliege
An Fruchtfliegen studieren Forscher wie die Arbeitsgruppe von Strauss Prozesse der Erinnerung und Funktionen des Gedächtnisses. Teilweise ähneln diese Prozesse denen beim menschlichen Gedächtnis. So wurde in früheren Studien gezeigt, dass das Kurzzeitgedächtnis von Fruchtfliegen altersbedingt nachlässt und dabei ein ähnliches Protein wie beim Menschen eine Rolle spielt.
In der neuen Untersuchung haben Tammo Krause und Laura Spindler das Körpergedächtnis von Drosophila erforscht. Fruchtfliegen sind Insekten, die eine vollständige Metamorphose durchmachen: Die Tiere durchleben drei Larvenstadien, währenddessen sie wachsen. Dann verpuppen sich die Larven und schlüpfen schließlich als ausgewachsene Fruchtfliege. Wegen des harten Außenskeletts kann sich die Körpergröße jetzt nicht mehr verändern.
Kletterversuche im Fliegenlabor
Obwohl die Größe der Fruchtfliege sich nicht mehr ändert, gibt es unterschiedlich große Exemplare. Dies liegt an der Nahrungsversorgung während der Larvenzeit: Gut genährte Larven wachsen mehr und werden dementsprechend zu größeren Fruchtfliegen. „Wir wollten wissen, wie die Insekten das Wissen über ihre Körpergröße erwerben und sich daran auch später noch erinnern“, sagt Krause. Er und seine Kollegin Spindler beobachteten, wie die Insekten unter verschiedenen Bedingungen versuchen, einen kleinen Graben zu überwinden, der größer ist als ihre Schrittlänge.
Drosophila zeigt in einem solchen Fall ein stereotypes Verhalten: Um den Kletterversuch einzuleiten, erfolgen zunächst Suchbewegungen mit den Vorderbeinen über den Kopf hinweg. Falls der Graben aber entschieden zu breit ist, ist dieses typische Verhalten nicht zu sehen – die Fliegen wenden sich dann einfach ab. Sie erkennen, dass sie zu klein sind um das Hindernis zu überklettern.
Drosophila eicht sich über optisches Phänomen
Drosophila lernt offenbar, die Entfernung über den Graben hinweg und die Reichweite ihrer Beine einzuschätzen, indem sie die visuellen Informationen aus der Umgebung wie beispielsweise ein Streifenmuster mit ihrer Körpergröße verknüpft. Frisch geschlüpfte und im Dunkeln aufgezogene Fruchtfliegen überschätzen ihre Körpergröße und versuchen wesentlich häufiger, einen viel zu großen Graben zu überwinden, als Tiere, die bei normalem Tag-Nacht-Rhythmus aufgezogen wurden.
In einem Experiment manipulierten die Forscher die Bewegungsparallaxe, die Strukturen in der Umwelt beim Gehen auf der Netzhaut erzeugen, während des Lernprozesses und verringerten sie künstlich. Das optische Phänomen kennt man, wenn man aus dem Zug in die Landschaft schaut: Je nach Entfernung der Häuser, Bäume und Sträucher ziehen sie scheinbar unterschiedlich schnell im Bild vorbei. Das Ergebnis der Manipulation: Die Fliegen unterschätzten ihre Körpergröße und unternahmen weniger Kletterversuche. Dies legt nahe, dass Drosophila über die Bewegungsparallaxe ihre Größe einzuschätzen lernt, also das visuelle Feedback beim Gehen.
:quality(80)/images.vogel.de/vogelonline/bdb/1534300/1534328/original.jpg)
Signalverstärker im Gehirn
Protein lässt Taufliegen lernen – oder eben nicht
„Wenn die Fruchtfliege aus ihrer Verpuppung schlüpft und sich im Raum bewegt, wird die Bewegung vom Auge erfasst und die Fliege kann sich praktisch eichen“, erläutert Strauss. „Ist diese Eichung einmal erfolgt, bleibt das Wissen für den Rest des Lebens erhalten.“ Dies zeigte ein weiterer Versuch, bei dem die Fruchtfliegen nach drei Tagen unter normalen Lichtverhältnissen 21 Tage im Dunkeln verbringen mussten – und nach dieser langen Zeit trotzdem die gleiche Anzahl von Kletterversuchen unternahmen wie drei Tage alte Fliegen. „Wir nehmen daher an, dass das Gedächtnis für die eigene Körpergröße das dauerhafteste Gedächtnis ist, das bisher für Drosophila beschrieben wurde“, schreiben die beiden Erstautoren Krause und Spindler in einer Veröffentlichung.
Speichervorgang noch nicht lückenlos geklärt
Die Neurobiologen entdeckten weitere Mechanismen, die neue Fragen aufwerfen. Das Gedächtnis ist in den ersten zwei Stunden nach dem Training noch stressanfällig. In dieser Zeit kann es durch Stress wieder gelöscht werden. Ist das Gelernte aber erst einmal verankert, können die Fruchtfliegen zwölf Stunden nach Trainingsende für immer darauf zugreifen. Was passiert in der Zwischenzeit? Wie erfolgt die dauerhafte Verankerung des Gelernten im Gehirn? Diese Fragen gilt es noch zu klären. „Uns interessieren die epigenetischen Bedingungen, die zu einem langlebigen Gedächtnis führen. Daran werden wir weiter arbeiten“, kündigt Strauss an.
Originalpublikation: T. Krause et al.: Drosophila Acquires a Long-Lasting Body-Size Memory from Visual Feedback, Current Biology 29, 1833-1841, 3. Juni 2019: DOI:10.1016/j.cub.2019.04.037
(ID:46069907)