Kategorisierung im Gehirn Schubladendenken bei Mäusen und Menschen
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Mäuse denken erstaunlich ähnlich wie Menschen: auch sie nutzen „Schubladen“, um Informationen zu ordnen und zu kategorisieren. Dies zeigt eine aktuelle Studie von Forschern des Max-Planck-Instituts für Neurobiologie. Dabei kamen die Wissenschaftler den neuronalen Grundlagen des abstrakten Denkens auf die Spur.

Martinsried – Ein Kleinkind betrachtet ein neues Bilderbuch. Plötzlich deutet es auf eine Abbildung und ruft „Stuhl!“. Dass das Kind damit richtig liegt, erscheint uns nicht sonderlich nennenswert. Wir erkennen schließlich alle Arten von Stühlen sicher als „Stuhl“. Für ein Kleinkind verbirgt sich dahinter jedoch ein enormer Lernprozess: Es muss die Abbildung in dem Buch mit den Stühlen, die es bereits kennt, verknüpfen – obwohl diese vielleicht eine andere Form und Farbe haben. Wie schafft ein Kind das? Die Antwort lautet Kategorisierung, ein fundamentales Element unseres Denkens.
Das Gehirn, ein Ordnungsfanatiker
Kategorisierung ist ein Weg des Gehirns, die unzähligen Eindrücke unseres täglichen Lebens zu organisieren. Indem wir Informationen in Kategorien zusammenfassen, vereinfachen wir unsere komplexe Welt und können schnell und effektiv auf neue Erlebnisse reagieren.
„Jedes Mal, wenn ein Kind einen Stuhl sieht, speichert es das Erlebnis“, sagt Sandra Reinert vom Max-Planck-Institut für Neurobiologie. „Basierend auf Ähnlichkeiten zwischen den Stühlen abstrahiert das Gehirn des Kindes die Eigenschaften und Funktionen von Stühlen und bildet eine eigene Kategorie „Stuhl”. So kann das Kind später neue Stühle schnell mit der Kategorie und dem darin enthaltenen Wissen verknüpfen.“
Unser Gehirn kategorisiert ununterbrochen: Nicht nur Stühle im Kindesalter, sondern jegliche Information zu jedem Zeitpunkt. Diese Art von Schubladendenken bietet einen bedeutenden Vorteil: Es ist eine Methode, die Welt bzw. die Wahrnehmung der Welt zu vereinfachen und zu organisieren. Ohne Kategorisierung könnte der Mensch nicht so effizient mit seiner Umgebung interagieren. Kurz gesagt: Wir müssten bei jedem Stuhl neu lernen, dass wir darauf sitzen können. Das Kategorisieren von Sinneseindrücken ist also essenziell für uns – die Vorgänge im Gehirn sind aber noch weitgehend unverstanden.
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Lernprozesse im Gehirn
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So testen Forscher das Schubladendenken von Mäusen
Wie das Gehirn abstrakte Informationen in erlernten Kategorien speichert haben nun Neurobiologin Reinert gemeinsam mit ihren Kollegen untersucht. Da dies nur schwer im Menschen möglich ist, testeten die Wissenschaftler, ob Mäuse auf eine ähnliche Weise wie wir kategorisieren. Dazu zeigten sie den Tieren Bilder mit unterschiedlichen Streifenmustern und gaben ihnen eine Sortier-Regel vor. Eine Mäusegruppe sollte die Muster anhand der Streifenbreite in zwei Kategorien einordnen, die andere Gruppe anhand der Orientierung. Die Mäuse erlernten die für sie zutreffende Regel und sortierten die Bilder zuverlässig der richtigen Kategorie zu. Nach dieser anfänglichen Trainingsphase ordneten sie sogar Streifenmuster, die sie zuvor noch nicht gesehen hatten, problemlos den Kategorien zu – ganz ähnlich dem Kind mit dem neuen Buch.
Und nicht nur das: Änderten die Forscher die Sortier-Regel, ignorierten die Mäuse das zuvor Erlernte und sortierten die Bilder entsprechend der neuen Regel um – etwas, das auch wir ständig tun, wenn wir Neues lernen. Damit zeigt die Studie erstmals in welchem Umfang und mit welcher Präzision Mäuse kategorisieren und damit an unser Abstraktionsvermögen heranreichen.
Nervenzellen werden selektiv für Kategorien
Mit dieser Erkenntnis konnten die Forscher nun die Grundlagen von Kategorisierung im Mäusegehirn untersuchen. Sie konzentrierten sich auf den präfrontalen Kortex, eine Gehirnregion, die im Menschen bei komplexen Denkprozessen eine Rolle spielt. Die Untersuchungen zeigten, dass dort bestimmte Nervenzellen aktiv werden, wenn die Tiere die Streifenmuster in Kategorien ordneten. Interessanterweise reagierten dabei unterschiedliche Nervenzellgruppen selektiv auf einzelne Kategorien.
„Die Entdeckung von Kategorie-selektiven Nervenzellen im Mäusegehirn war ein Schlüsselpunkt“, sagt Tobias Bonhoeffer, der an der Studie mitgewirkt hat. „Dadurch konnten wir erstmals die Aktivität solcher Nervenzellen von Anfang bis Ende des Kategorie-Lernens beobachten. Das zeigte, dass die Nervenzellen ihre Selektivität nicht sofort erlangen, sondern erst im Laufe des Lernprozesses entwickeln.“
Der Weg ins Langzeitgedächtnis
Die Wissenschaftler vermuten daher, dass Kategorie-selektive Nervenzellen im präfrontalen Kortex erst dann eine Rolle spielen, wenn das Erlernte vom Kurzzeit- ins Langzeitgedächtnis verschoben wurde. Dort speichern die Zellen Kategorien als Teil des semantischen Gedächtnisses ab – die Sammlung alles Faktenwissens. In dem Zusammenhang sollten wir im Hinterkopf behalten, dass Kategorien eine Methode des Gehirns sind, unsere Welt einfacher zu gestalten. Das bedeutet jedoch nicht, dass diese Kategorien zwangsläufig „richtig“ sind oder die Realität korrekt abbilden. Schubladendenken kann also manchmal problematisch sein – zumindest, wenn die Kategorien im Kopf so festgefahren sind, dass sie sich nicht mehr durch neue Eindrücke aus der Umwelt einfach umwandeln lassen.
Originalveröffentlichung: Sandra Reinert, Mark Hübener, Tobias Bonhoeffer, Pieter M. Goltstein: Mouse prefrontal cortex represents learned rules for categorization, Nature, online April 21, 2021; DOI: 10.1038/s41586-021-03452-z
* Dr. C. Bielmeier, Max-Planck-Institut für Neurobiologie, 82152 Planegg
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