Kristallforschung Kristalle können hüpfen oder zerbröseln
Kristalle können beweglicher sein, als man meinen sollte. So hüpft ein Kristall einer palladiumhaltigen, organometallischen Verbindung regelrecht von einer Heizplatte, wenn er nur heiß genug wird. Ein internationales Team, an dem auch Forscher des Max-Planck-Instituts für Festkörperforschung in Stuttgart beteiligt waren, hat nun herausgefunden, welche Kraft dem Material auf die Sprünge hilft.
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Stuttgart – Anregungen, was künstlichen Muskeln Kraft geben könnte, bekommen Materialwissenschaftler meist aus der Biologie. Denn vor allem in Pflanzen finden sich viele unbelebte Materialien, die auf einen äußeren Reiz wie hohe Feuchtigkeit mit einer Bewegung reagieren: Tannenzapfen und die Samenkapseln Mittagsblume öffnen sich so, um ihre Saat zu verstreuen, und die Körner des wilden Weizens bohren sich nach diesem Prinzip in die Erde. Doch auch manche Kristalle könnten sich als Motoren für Mikromaschinen und Roboter eignen, die keine Stromquelle und keinen Treibstoffvorrat brauchen. Die organometallische Verbindung (Phenylazophenyl-)Palladium-Hexafluoroacetylaceton, kurz PHA, bildet solche Kristalle. Diese springen, wenn sie über 70 °C erhitzt werden, und könnten daher künstliche Muskeln spielen lassen.
Ein Team der New York University Abu Dhabi, des Max-Planck-Instituts für Festkörperforschung und des Nationalen Instituts für Materialwissenschaften im japanischen Tsukuba hat nun aufgeklärt, wie der Hüpf-Effekt in PHA entsteht. „Wenn wir besser verstehen, was dabei geschieht, können wir möglicherweise Materialien erzeugen, die sich für praktische Anwendungen in künstlichen Muskeln oder Aktoren eignen“, sagt Robert E. Dinnebier, der am Max-Planck-Institut für Festkörperforschung die wissenschaftliche Servicegruppe Röntgen-Beugung leitet und die Studie an PHA mit Panče Naumov von der New York University initiierte.
Beim Hüpf-Effekt ändert sich die Größe eines Kristalls stark und blitzartig
Bei ihrer Untersuchung entdeckte das Forscherteam drei bisher unbekannte Kristallformen des Materials, die PHA zusätzlich zu zwei bereits bekannten Modifikationen und abhängig von der Temperatur annimmt. „PHA hält damit einen Rekord“, sagt Tomče Runčevski, der seitens des Max-Planck-Instituts für Festkörperforschung maßgeblich an den Experimenten beteiligt war. „Bisher ist keine andere metallorganische Verbindung bekannt, die in so vielen verschiedenen Strukturen auftritt.“
Der thermische Hüpfeffekt tritt zwischen zwei Strukturen auf, die als α- und γ-Modifikation bezeichnet werden. Wenn PHA sich etwa zwischen 70 und 80 Grad Celsius von der einen in die andere Struktur umwandelt, dehnen sich seine Kristalle in einer Richtung drastisch aus. Auch in dem Punkt ist PHA rekordverdächtig: Kaum eine andere Molekülverbindung wechselt zwischen zwei Strukturen, die zumindest in einer Richtung so unterschiedlich lang sind. Entlang der zweiten Achse strecken sich die Kristalle bei der Metamorphose ebenfalls deutlich, während sie in der dritten stark schrumpfen.
Dass sich die Abmessungen einen PHA-Kristalls zwischen der α- und γ-Struktur so stark ändern, reicht aber nicht, damit der Kristall bei entsprechender Temperatur vom Probenteller hüpft. Wie bei Leichtathleten, die nur mit explosiven Bewegungen besonders hoch und weit springen, ist dafür ausschlaggebend, dass sich die Struktur blitzartig ändert. Genau das ist zwischen α- und γ-PHA der Fall. Wenn der Stoff bei etwa 70 Grad Celsius noch in der α-Form vorliegt, sich aber eigentlich in der γ-Form schon viel wohler fühlen würde, baut sich eine mechanische Spannung auf. „Diese Spannung entlädt sich ab einem gewissen Punkt dann 10000 mal schneller als bei Strukturänderungen, bei denen der Hüpf-Effekt nicht auftritt“, sagt Tomče Runčevski.
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